Die Krise als Chance nutzen – italienisches Improvisationstalent trotzt dem Coronavirus

Norditalien wird zum Grosslabor für «smart working». Baustellen sollen «deblockiert» werden, um die Rezession aufzufangen.

Andres Wysling, Rom
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Italien - China: Im Mailänder Quartier Paola Sarpi wirbt ein Plakat für die Zusammenarbeit im Kampf gegen das Virus.

Italien - China: Im Mailänder Quartier Paola Sarpi wirbt ein Plakat für die Zusammenarbeit im Kampf gegen das Virus.

Emanuele Cremaschi / Getty

Der italienische Regierungschef Giuseppe Conte übt sich in Zweckoptimismus: Die Notlage mit dem Coronavirus werde dem Land Kraft zu einem neuen Anlauf geben, sagt er. Schon seit Jahren wird der dringende «rilancio» beschworen, jetzt soll plötzlich gelingen, was bisher zu oft nur beredet wurde. Völlig unrealistisch ist solcher Zweckoptimismus nicht. Mit einer Mischung von Zerknirschung und Stolz verweisen Italiener auf das Beispiel der Brücke in Genua. Diese ist zusammengebrochen, zwei Jahre später wird die neue stehen. Was es braucht in Italien, um schnell vorwärtszumachen: einen Sonderkommissar, Notfallgesetze zur Umgehung der üblichen Gesetze und vor allem Improvisationstalent – daran ist in diesem Land kein Mangel.

Eine «Schockbehandlung» wie in Genua schlägt im Wirtschaftsblatt «Il Sole 24 Ore» Giancarlo Cancelleri vor, der Vizeminister für Infrastruktur, um eine drohende Rezession abzuwenden. Man müsse sofort die überkomplizierten Submissionsrichtlinien aufheben. Dann könne man endlich mit dem Bau von wichtigen Projekten loslegen, die im Dschungel der Bürokratie blockiert seien. Das ist schon seit Jahren ein Thema der politischen Diskussion. Zum Zweck der Korruptionsbekämpfung wurden bei der Vergabe öffentlicher Aufträge so viele Kontrollen eingebaut, dass überall Verzögerungen auftreten, oft jahrelange. Der Vizeminister spricht von einem «Marshall-Plan», laut ihm stehen 86 Milliarden Euro für Eisenbahn- und Autobahnprojekte bereit – die Pläne liegen vor, die Mittel sind vorhanden, man muss nur mit dem Bau beginnen. Auch viele Konzessionsvergaben der öffentlichen Verwaltungen sind blockiert. Da könnte viel in Gang kommen, etwa im Bereich der Abfallwirtschaft.

Nicht nur ungünstige Auswirkungen verspricht man sich in der Wirtschaftsmetropole Mailand auch von dem Grossversuch mit dem «smart working»: Tausende von Leuten sitzen jetzt zu Hause an ihrem Computer statt in der Firma. Man kann oder muss neue Organisationsformen und Betriebsabläufe ausdenken und austesten, von denen man bisher vielleicht nur geredet hat. Die positiven und negativen Folgen dieses Feldversuchs erfahren Arbeitgeber und Arbeitnehmer jetzt in der täglichen Praxis. Je nachdem wird man Neuerungen weiterentwickeln oder zu altbewährten Arbeitsmodellen zurückkehren.

In sechs Regionen sind die Schulen bis auf weiteres geschlossen. Der Schulunterricht findet jetzt vielerorts online statt. Die Lehrer lassen sich etwas einfallen und probieren aus. Das Ministerium begleitet diese Versuche des «virtuellen» Unterrichts wohlwollend, gesucht werden Beispiele von didaktisch gelungenen Lerneinheiten für die breitere Anwendung. Vielleicht wird Norditalien, ja Italien überhaupt, unversehens zu einem grossen Labor für die vieldiskutierten «massive open online courses» auf verschiedenen Ausbildungsstufen.

Der optimistische Blick in die längere Zukunft wird allerdings von den kurzfristigen Aussichten stark getrübt. Besonders die italienische Tourismusbranche steht, das ist schon jetzt klar, vor einem schwarzen Jahr. Die Abbuchungen in den Hotels sollen schon gegen 40 Prozent betragen, und zwar im ganzen Land, nicht nur in der roten und der gelben Zone. «Die Leute haben Angst vor Italien», sagt der Direktor des Hotelverbands, Bernabò Bocca, in der Zeitung «La Repubblica». Ein Amerikaner unterscheide nicht zwischen Florenz und Codogno, dem Ausgangsort der Epidemie. Im Tourismus wurden im vorletzten Jahr 90 Milliarden Euro erwirtschaftet, das entsprach 5 Prozent der Wirtschaftsleistung.

Die Wirtschaftsverbände fordern Unterstützung für die direkt und indirekt vom Coronavirus «angesteckten» Betriebe in den meistbetroffenen Branchen: ausser Tourismus auch Messen, Transport, Freizeit, Kultur. Wirtschaftsminister Stefano Patuanelli zeigt Verständnis, weist aber darauf hin, dass die beschränkten Mittel zielgerichtet eingesetzt werden müssten. Eine gute Nachricht für die italienische Regierung ist in der gegenwärtigen Notlage, dass Brüssel – in der Person des italienischen Wirtschaftskommissars Paolo Gentiloni – schon «Flexibilität» beim Staatshaushalt signalisiert hat.

Besonders betroffen sind die Betriebe in der roten Zone rund um Codogno südlich von Mailand, darunter 60 mittelgrosse Betriebe mit 4000 Angestellten. Als Sofortmassnahme hat die Regierung angekündigt, diese Betriebe müssten bis Ende März keine Steuern bezahlen; eine solche Hilfe lässt sich schnell und unbürokratisch umsetzen. Wenn die Quarantäne nach zwei oder drei Wochen gelockert oder aufgehoben wird, dürfte dort die Rückkehr zum Alltag relativ schnell gelingen.

Die Coronavirus-Epidemie hat auch einmal mehr Doppelspurigkeiten und Kompetenzenwirrwarr im italienischen Verwaltungsapparat aufgedeckt. Italien war lange ein Zentralstaat, dann wurden die Regionen mit erweiterten Kompetenzen ausgestattet, allerdings ohne eine eindeutige Regelung der Zuständigkeiten. In den letzten Tagen verfügten ausser der Zentralregierung auch Regional- und Gemeindepräsidenten nach eigenem Gutdünken Reisesperren oder Schulschliessungen. Das führte da und dort zu Behinderungen im Alltagsleben und nebenbei auch zu – vorwiegend parteipolitisch motivierten – Zusammenstössen und Schuldzuweisungen zwischen Politikern der verschiedenen Ebenen. Die Krisenbewältigung wurde damit nicht gestärkt, das Ansehen der beteiligten Politiker auch nicht.

Manche Bürgermeister fühlten sich wegen unklarer oder widersprüchlicher Anweisungen von oben überfordert. Sie verlangen, der Föderalismus sei zu «sterilisieren», die Staatsregierung solle allein Regie führen. Auch der Wirtschaftsverband Confindustria fordert das. Einzelaktionen regionaler oder lokaler Verantwortlicher hätten mehr Verwirrung gestiftet als geholfen, heisst es hier. Insgesamt hat man aber nicht den Eindruck, dass die italienischen Behörden in der Coronavirus-Krise versagt hätten, auch wenn Fehler passierten. Die Einteilung des Landes in rote, gelbe und weisse Zonen ist leicht verständlich und ermöglicht ein differenziertes Vorgehen nach einheitlichen Kriterien beim Versuch, die Verbreitung des Virus zu stoppen oder jedenfalls zu verlangsamen.

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