Kommentar

Wir Schönwetterdemokraten: Notrecht bedroht die Demokratie. Eingriffe in Grundrechte müssen offen diskutiert werden, auch wenn es unbequem ist

Es hat lange gedauert, bis wir nur schon laut über die Verhältnismässigkeit der Notrechtsmassnahmen nachdachten. Über «Corona-Ignoranten» zu wettern, war bequemer.

Christina Neuhaus 16 Kommentare
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Illustration Eugen U. Fleckenstein

Der Kongress tanzt nicht. Er isst, trinkt, bestellt Pizza und macht im Übrigen das, wofür er gewählt ist: Er teilt sich die Macht mit der Regierung. Die eidgenössischen Räte sind aus der Quarantäne zurück, die sie sich am 15. März selbst verordnet haben. Kurz bevor der Bundesrat zu Notrecht griff, hatten sich die Volksvertreter für überflüssig erklärt. Kommissionssitzungen, die man ebenso problemlos per Videokonferenz abhalten könnte wie die Team-Calls einer Marketingabteilung, wurden abgesagt. Nicht einmal eine Notrechtsdelegation tagte noch. Die Staatspolitische Kommission des Nationalrats hatte ein Gremium, das den Bundesrat beraten und im Notfall stoppen kann, vor wenigen Jahren für überflüssig erklärt.

Nicht nur das Parlament, auch die Bevölkerung begegnet dem grössten Grundrechtseingriff seit dem Zweiten Weltkrieg mit bemerkenswerter Indifferenz: Bewegungs-, Versammlungs- und Wirtschaftsfreiheit wurden bereitwillig preisgegeben. Hätte der Bundesrat Mitte März eine Ausgangssperre verordnet, wäre dieser Entscheid wahrscheinlich kaum hinterfragt worden.

Erstaunlich? Nicht wirklich. Bereits Gustave Le Bon beschrieb in seinem 1895 erschienenen Buch «Psychologie der Massen», wie sich die Menschen unter dem Eindruck einer Bedrohung auf ein gemeinsames Ziel einigen und zusammenrücken. Da wird nicht mehr aufgemuckst. In einer Güterabwägung zwischen Freiheit und Gesundheit haben wir uns für die Gesundheit entschieden. Wir mussten zusehen, wie das Gesundheitssystem in Norditalien zusammenbrach und die Armee die Toten in Lastwagen abtransportierte. Wir haben gesehen, wie schnell sich das Virus auch in der Schweiz ausbreitete. Mit einer solchen Gefahr vor Augen war der vorübergehende Verzicht auf Bürgerrechte nachvollziehbar. Freiheit bedeutet auch, dass man sie freiwillig einschränken kann. Zumindest eine Zeitlang.

Kein Zutritt für Hunde und Alte

Bedenklich ist dagegen, wie lange wir uns weigerten, nur schon laut über die Verhältnismässigkeit der Massnahmen nachzudenken. Lieber echauffierten wir uns über Zürcher und Thurgauer, die am Wochenende partout in den Alpstein wollten, oder über Jugendliche, die im Park zu nahe beieinandersassen.

Dass die Schweiz ihre Berge absperrt, ist bemerkenswert genug. Doch die Grundrechtseingriffe, über die wir grosszügig hinwegsehen, gehen weit über polizeiliche Zufahrtskontrollen zum Alpstein hinaus: Als der Kanton Uri allen über 65-Jährigen Hausarrest erteilte, pfiff ihn der Bundesrat zwar zurück. Doch den Tessiner Staatsrat liess er wochenlang gewähren. Senioren, die es trotz Einkaufsverbot wagten, einen Negozio aufzusuchen, oder keine andere Wahl hatten, weil die Nachbarschaftshilfe versagte, mussten damit rechnen, weggeschickt zu werden. An nicht wenigen Ladentüren klebte neben dem Schild «Vietato l’ingresso ai cani» ein Zettel mit der Aufschrift «Vietato fare la spesa agli over 65». Kein Zutritt für Hunde und Alte.

War es rechtens, dass wir einer ganzen Bevölkerungsgruppe ein grundlegendes Freiheitsrecht verwehrten? Nein, sagen Staatsrechtler wie der Zürcher Daniel Moeckli. Der Staat könne die Menschen zwar auffordern, zu Hause zu bleiben. Die pauschale Ausgrenzung von Menschen allein aufgrund ihres Alters sei aber nicht mit dem Diskriminierungsverbot vereinbar.

«Wir tun das für euch!»

Es wäre allerdings feige, die Diskussion über die Legitimität der angewandten Mittel den Juristen zu überlassen. Wir Schönwetterdemokraten haben uns lange genug hinter den Experten versteckt. Die unbequemen Fragen müssen wir als Gemeinschaft beantworten.

Die Frage, was eine Gesellschaft zusammenhält, können weder Virologen noch Staatsrechtler beantworten.

Die öffentliche Meinung ist ein beeinflussbares Gut. Erst waren wir uns einig, dass wir alle zu Hause bleiben sollten, um «Alte und Vulnerable» zu schützen. Als sich dann zeigte, dass viele Senioren nicht daheimbleiben, sondern an den See oder in den Coop wollten, hiess es plötzlich: «Wir tun das schliesslich für euch Alte!» Dann änderte sich der Tonfall nochmals. Nun wiesen wir auf die Spitalkapazitäten hin, die auch für Junge knapp würden, wenn sich die Alten nicht schützten. Von Woche zu Woche wurde der Ton giftiger: Die AHV-Generation solle mit einem Solidaritätsbeitrag finanzpolitisch in die Pflicht genommen werden, sie solle zugunsten der Jungen auf ihr Stimmrecht verzichten oder wenigstens das vergünstigte SBB-GA abgeben.

Die Frage, was eine Gesellschaft eigentlich zusammenhält, können weder Virologen noch Staatsrechtler beantworten. Wenn Polizisten Kinderspielplätze kontrollieren, junge Väter Grossväter anpflaumen, weil sie sich aus dem Haus wagten, und Balkon-Sheriffs jedes Mal die Nummer 117 wählen, wenn die Nachbarn gegenüber Besuch bekommen: Bringt das nicht etwas ins Kippen, was vielleicht nie mehr geradegerückt werden kann?

Skepsis ist Bürgerpflicht

Der Bundesrat hat mit Augenmass gehandelt und seine fast schon autokratischen Befugnisse nicht missbraucht. Und doch: Man dürfe einer Regierung nie trauen, sagte die österreichische Rechtsphilosophin Elisabeth Holzleithner kürzlich in einem Gespräch über den starken Staat in Krisenzeiten und die Selbstdisziplinierung der Bevölkerung. Das lehre uns die Geschichte und stehe so schon bei Aristoteles.

Eine Regierung sei nur legitim, wenn sie die Zustimmung der Regierten besitze, deren Leben, Freiheit und Eigentum sie schütze, schrieb der englische Aufklärer John Locke. Er warnte aber auch vor «flatterers and sycophants», Schmeichlern und Speichelleckern, die dazu beitragen, dass aus einem wohlmeinenden Regenten ein Tyrann wird. Nur ein skeptischer Bürger war in seinen Augen auch ein guter Bürger. Das gilt heute noch. Selbst wenn viele nun den Bundesrat für sein Krisenmanagement loben: Wir haben nicht nur Grund, sondern auch die Pflicht, kritisch zu sein.

In der Schweiz verhindern Föderalismus, Subsidiaritätsprinzip und Konkordanz, dass aus dem Bundesrat ein Autokratenorgan wird. Doch in vielen Ländern, etwa in Osteuropa, hat die Corona-Krise autoritäre Tendenzen gefördert. Die Rezession, die nach der Pandemie droht, wird diese Entwicklung weiter beschleunigen. Das zeigt die Erfahrung. Auch die Finanzkrise von 2008 hat tiefe politische Spuren hinterlassen.

Kritik an der Demokratie

In einer kürzlich erschienenen Analyse von Wahlkämpfen in fünfzehn verschiedenen europäischen Ländern zeigen der Schweizer Politikwissenschafter Hanspeter Kriesi und sein deutscher Koautor Swen Hutter, dass die demokratischen Strukturen und Prozesse nach der globalen Finanzkrise immer stärker unter Druck kamen. In Zentral- und Osteuropa formulierte jeder dritte Parteislogan eine Kritik am demokratischen System.

Die Untersuchung zeigt weiter, dass im Süden Europas Protestbewegungen wie der Movimento Cinque Stelle in Italien oder die spanischen Indignados Aufwind erhielten, während in Nordwesteuropa Rechtspopulisten wie die deutsche AfD immer mehr Einfluss gewannen. Die autoritären Tendenzen, die in Europa seit Jahren zunehmen, wurden nach der Finanzkrise und den Jahren der darauffolgenden Austeritätspolitik deutlich gestärkt. Die Zahl der Europäer, die rechts- oder linkspopulistisch wählen, hat sich in fünfzehn Jahren verdreifacht.

Es ist deshalb erstaunlich, wie lange die Frage der Freiheitsrechte in der Schweiz ignoriert wurde. Als erste politische Partei versuchte die SVP, das Thema für sich zu beanspruchen. Doch besonders überzeugend war sie nicht. Mal war es ihr zu viel, mal zu wenig Eingriff in die Freiheit. Erst als die Linke am 1. Mai relativ unsanft mit der Tatsache konfrontiert wurde, dass das Versammlungs- und Demonstrationsverbot auch am Tag der Arbeit gilt, kam Bewegung in die Sache. Galt das Thema der bürgerlichen Freiheiten bis dahin als abgehobene Spiegelfechterei für Populisten und Libertäre, wurde nun plötzlich über alle Parteigrenzen hinweg diskutiert.

Machen wir uns nichts vor: Notrecht bedroht die Demokratie. Es beschneidet unsere Freiheit im Namen von Sicherheit und Gesundheit. Natürlich droht der Schweiz keine Autokratie. Aber wir müssen aufpassen, dass sich die Gewichte nicht zu stark in Richtung Sicherheit verschieben. Sonst nimmt uns der Staat eines Tages auch die Verantwortung ab, die wir ihm gar nie übertragen haben. Und das nicht nur vorübergehend, sondern für immer.

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Alexander Lanz

Sehr befreiend, in einem bedeutenden Schweizer Medienblatt solche kritische Betrachtungen zu lesen, die sich nicht in Polarisierung gefallen, sondern gleichzeitig «der anderen Seite»  Respekt entgegenbringen. Wir brauchen diese Diskussion, wenn wir in den herausfordernden Zeiten, mit denen wir uns konfrontiert sehen, wach und lebendig und in Entwicklung bleiben wollen. Herzlichen Dank!

Bernhard Sorg

Vielen Dank für diesen unbequemen Beitrag der zur Pflichtlektüre werden sollte. Hoffentlich liest ihn der oberste Schweizer Schwarzmaler Matthias Egger. Einer der vielen Gelehrten die uns vom Elfenbeinturm, aus den Laboratorien und hinter den Mikroskopen weltfremde Richtlinien vorschreiben die grossenteils mehr als umstritten sind.