Warum die Kirche in Ausnahmesituationen auch ohne Sakramente auskommen kann

Keine Messfeiern, keine Gottesdienste, keine Sakramente: Seit Beginn der Corona-Krise steht das kirchliche Leben weltweit still. Nun lockern sich die Bedingungen. Doch die Auflagen sind problematischer als das totale Verbot.

Harm Klueting
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Für gläubige Katholiken ist die konsekrierte Hostie der Leib Christi. Aber auch für sie kann die äussere Gestalt der Hostie Träger von Viren sein.

Für gläubige Katholiken ist die konsekrierte Hostie der Leib Christi. Aber auch für sie kann die äussere Gestalt der Hostie Träger von Viren sein.

Alessandra Tarantino / AP

Am 30. April 1944 sprach Dietrich Bonhoeffer in einem Brief aus der Haft in Berlin-Tegel von «religionslosem Christentum». Das war derselbe Brief, in dem er ein Jahr vor seiner Tötung voraussagte: «Wir gehen einer völlig religionslosen Zeit entgegen.» Daran sieht man sich in diesen Tagen erinnert: an gottesdienstloses Christentum oder religionsloses Christentum, wenn man «religio» als Kult und Kult als Gottesdienst versteht.

Aber auch an die 1998 heiliggesprochene Karmelitin und Philosophin Edith Stein, die am 4. August 1942 in einem ihrer letzten Briefe auf ihrem Todesweg nach Auschwitz schrieb: «Wir sind ganz ruhig und fröhlich. Natürlich bisher keine hl. Messe und Kommunion; kommt vielleicht später. Nun kommen wir ein bisschen dazu zu erfahren, wie man nur von innen her leben kann.»

Das Erzbistum Köln stellte ab 15. März alle öffentlichen Gottesdienste wegen der Corona-Pandemie ein, was bis zum Karfreitag gelten sollte und später verlängert wurde. Mitte März konnte man in der Schweizer Boulevardzeitung «Blick» lesen: «Öffentliche Gottesdienste sind in der Schweiz bis am 19. April verboten worden», also über Ostern hinaus.

Die Situation ist einmalig

Zu diesem Zeitpunkt galt das bereits in den Bistümern Basel, Chur, Lausanne-Genf-Freiburg, Lugano, Sitten und St. Gallen. Ähnlich für die reformierten Kirchen der Schweiz, die deutschen evangelischen Landeskirchen, die anderen deutschen Bistümer, die Kirchen in Österreich und in anderen Ländern, auch für die jüdischen Synagogen und muslimischen Moscheen.

Es gab in den Christenverfolgungen im Römischen Reich, in Pestzeiten nach 1348, im Dreissigjährigen Krieg oder während des Zweiten Weltkriegs Ausfälle von Gottesdiensten. Doch war das örtlich und zeitlich begrenzt. Die nahezu weltweite Aussetzung von Gottesdiensten während so langer Zeit ist kirchen- und religionsgeschichtlich einmalig.

Die rechtlichen Aspekte sind noch nicht abschliessend diskutiert, die Glaubensfreiheit in Artikel 15 der Schweizer Bundesverfassung oder in Artikel 4 des deutschen Grundgesetzes, Artikel 9 der Europäischen Menschenrechtskonvention (MRK) oder die Canones 213, 214, 843 und 912 des «Codex Iuris Canonici» der katholischen Kirche verbürgen das Recht der Gläubigen auf Gottesdienst und Sakramentenempfang.

Sakrale Hygiene

Die Menschenrechtskonvention normiert die Freiheit, die Religion öffentlich durch Gottesdienste zu bekennen, kennt aber auch Einschränkungen zum Schutz der Gesundheit. Festzuhalten ist, dass, zumindest in Ländern wie der Schweiz oder Deutschland, nicht der Staat die Gottesdienste verboten hat, sondern dass Bischöfe oder Kirchenleitungen selbständig gehandelt oder staatliche Vorgaben umgesetzt haben.

Die Notwendigkeit der Aussetzung von Gottesdiensten zur Vorbeugung der Ausbreitung des Coronavirus ist unbestreitbar. Das gilt für die katholische Seite noch mehr als für die evangelische. Ein evangelischer Gottesdienst ist zumeist ein Wortgottesdienst und nur selten – in den deutschen Landeskirchen oft nur einmal im Monat – mit dem Abendmahl verbunden; die Risiken sind geringer, anders als bei einer katholischen Eucharistiefeier, die im Prinzip täglich stattfindet.

Es gibt in der katholischen Kirche eine hochentwickelte Sakralhygiene: Nichtkonsumierte konsekrierte Hostien werden als Leib Christi in einem aus kostbarem Material gefertigten Tabernakel aufbewahrt, die heiligen Gefässe, Patene und Kelch, werden am Ende der Eucharistiefeier rituell purifiziert, das Corporale genannte Tuch soll Partikel des Leibes Christi auffangen.

Der Wunsch macht das Sakrament

Dahinter bleibt die Profanhygiene zurück. Ich habe seit Anfang 2011 als Priester in verschiedenen europäischen Ländern, in den USA und Kanada heilige Messen gefeiert und vor Corona in keiner Sakristei Händedesinfektionsmittel vorgefunden. Stattdessen gab es, von rühmlichen Ausnahmen abgesehen, Toiletten ohne Handtücher oder mit manchmal Wochen alten und schon vielfach benutzten Stoffhandtüchern und Priester, die sich vor der heiligen Messe nie die Hände wuschen.

Auch gibt es, etwa in der Millionenstadt Köln, historische Kapellen, wo Priester und Gottesdienstbesucher in Ermangelung einer Toilette auf «die Büsche» verwiesen werden und auch «in die Büsche» gehen. Als ich in der Kirche 2010 meine Überlegungen zu Händedesinfektionsmitteln in Sakristeien vortrug, erntete ich Unverständnis.

Katholische Bistümer und evangelische Landeskirchen vom Erzbistum Köln bis zur Reformierten Kirche Bern-Jura-Solothurn fanden Ersatz für abgesagte öffentliche Gottesdienste. Das konnte von der den Gemeindegliedern bekannten Privatmesse des Priesters bis zu digitalen Gottesdiensten im Fernsehen oder Internet reichen.

Für Katholiken wurde in beiden Fällen die geistige Kommunion in Erinnerung gerufen. Thomas von Aquin lehrte im 13. Jahrhundert, dass der Wunsch nach dem Sakramentenempfang die Wirksamkeit des Sakraments der Eucharistie auch ohne dessen physischen Empfang bewirkt, was das Konzil von Trient 1555 lehramtlich und bis heute gültig bestätigte.

Das Elementarste der Kirche

Doch wurde, besonders um Ostern, nicht nur an der Aussetzung der Gottesdienste, sondern auch an Fernseh- und Internetgottesdiensten massive Kritik geübt. Der evangelikale Protestant und Publizist Peter Hahne meinte, die Kirchen nähmen es widerstandslos hin, dass ihnen «durch den Staat das Elementarste genommen wird: die Gemeinschaft bei Gotteslob, Wort und Sakrament».

Der Schriftsteller Martin Mosebach polemisierte gegen digitale Eucharistiefeiern und warf nicht nur Bischöfen «vorauseilenden Gehorsam» gegenüber dem Staat vor, sondern vermisste beim Fernsehgottesdienst den «sakralen Raum», dessen das Messmysterium bedürfe – übersah dabei aber die Ausnahmesituation.

Kardinal Robert Sarah, Präfekt der päpstlichen Kongregation für den Gottesdienst, hält nichts von digitalen Gottesdiensten und äusserte: «Die Priester müssen auf Gott schauen und nicht in eine Kamera» – vergass dabei aber, dass die Priester seit der Liturgiereform von 1970 auf die Gottesdienstbesucher schauen. Der Churer Weihbischof Marian Eleganti wird mit den Worten zitiert: «Ich glaube an diese übernatürliche Kraft der Gegenwart Gottes in der heiligen Hostie, die der Leib Christi ist. Wie kann ich mir jetzt vom Kommunionempfang Unheil, Kontamination und Ansteckung erwarten?»

Damit fällt er nicht nur hinter die Enzyklika «Mysterium fidei» Pauls VI. von 1965 zurück, in der zwischen «substantia» und «species» (Gestalt) unterschieden wird, sondern auch hinter das Konzil von Trient, das ebenfalls die «substantia» vom Äusseren unterschied, das unverwandelt bleibt. Bereits das vierte Laterankonzil von 1215 hat diese Unterscheidung lehramtlich festgeschrieben. Auch für den Katholiken, für den die konsekrierte Hostie der Leib Christi ist, kann die äussere Gestalt der Hostie Träger von Viren oder Bakterien sein.

Anmeldung, Kontrollen, kein Gesang

Inzwischen sind evangelische Gottesdienste und katholische Eucharistiefeiern in Deutschland wieder zugelassen, in der Schweiz sind sie ab 8. Juni erlaubt, wenn auch unter strengen Regelungen: begrenzte Personenzahl, Anmeldung mit Namen und Adresse, Einlasskontrolle, Abstandswahrung, kein Gesang, fallweise Atemschutzmaske. Der Bischof von Würzburg hat nur Wortgottesdienste ohne Kommunionspendung gestattet.

Anmeldung, Einlasskontrolle und begrenzte Personenzahl sind aber theologisch bedenklich und für Katholiken ein Widerspruch zum Kirchenrecht. Warum nicht beim digitalen Gottesdienst und bei der geistigen Kommunion bleiben? Diese Form unterstreicht wie keine andere die Ausnahmesituation.

Die Aufforderung «Unterwerft euch die Erde» im Buch Genesis bezieht die Naturwissenschaft ein. Wenn heutige Virologen mehr über das Coronavirus wissen als die Mediziner von 1348 über den erst 1894 bekanntgewordenen Pesterreger, so ist das gottgewollt. Naturwissenschaft ist kein Teufelszeug, sondern Teil des göttlichen Auftrags an die Menschheit. Wenn das Doppelgebot der Liebe (Matthäus 22,37–40) und die Goldene Regel der Bergpredigt (Matthäus 7,12) zur Liebe des Nächsten aufrufen, so bedeutet das auch, andere vor einem gefährlichen Virus zu schützen.

Einer der beiden Verbrecher, die mit Jesus gekreuzigt wurden, Dismas hiess er, bekannte sich als Sünder und sagte: «Jesus, denk an mich, wenn du in dein Reich kommst.» Darauf Jesus: «Heute wirst du mit mir im Paradies sein» (Lukas 23,43). Dismas hatte nie an einer Eucharistiefeier teilgenommen. Er lehrt uns, dass es Ausnahmesituationen gibt, die ohne Sakramente auskommen. Das wusste Edith Stein auf ihrem Weg nach Auschwitz, als sie auch ohne heilige Messe und Kommunion «ganz ruhig und fröhlich» war.

Harm Klueting ist Theologe und Historiker, Professor an der Universität Köln und katholischer Priester. Er hat lange in Freiburg i. Ü. gelehrt.