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S.P.O.N. - Die Mensch-Maschine Die Verstreamung der Welt

James Joyce hat es vorgemacht - und jetzt machen es alle nach: Der niedergeschriebene Bewusstseinsstrom kommt erst im Facebook-Zeitalter zu seiner Alltags-Vollendung, findet Sascha Lobo. Das macht das Leben anstrengend - aber gegen Informationsüberschuss gibt es ein einfaches Mittel.

Eine der meisterwähnten und wenigstgelesenen Passagen der Literatur ist das letzte Kapitel des Romans "Ulysses". Darin begleitet der Leser Molly Bloom seitenlang bei einem nächtlichen Gedankenstrom, dem Stream of Consciousness. James Joyce hat beschrieben, was Molly durch den Kopf geht und damit vor fast 100 Jahren Facebook vorweggenommen. Zwar handelt es sich um einen inneren Monolog - aber viele Nutzer scheinen Social Networks fast genauso ungefiltert zu benutzen. Selbst wenn das nicht immer klug und sinnvoll ist.

Auf Facebook  veröffentlicht der Durchschnittsnutzer 90 Mal im Monat irgendetwas, hat 130 Kontakte und bekommt also im Gegenzug jeden Tag 390 Mal die Gelegenheit, das Leben der Anderen im Passierstrom nachzuvollziehen.

Der Boom des mobilen Internet verstärkt noch die Tendenz, alles zu dokumentieren und als steten Datenfluss zu veröffentlichen: Bis zu 60 Prozent des mobilen Datenverkehrs in den USA lassen sich sozialen Netzwerken wie Facebook und Twitter zuordnen. Was der Einzelne im Internet wahrnimmt, besteht zunehmend aus einem Strom von Haustierfotos, Äußerungen zur Beschaffenheit des Mittagessens und sozialem Hintergrundrauschen. Aber Joyces Stream ist nicht nur der Urahn des Newsfeeds von Facebook. Die gesamte digitale Welt verstreamt. Selbst Bereiche, die auf den ersten Blick dafür nicht unbedingt geeignet erscheinen: Das vorläufige Krönchen des digitalen Informationsflusses tragen weibliche Teenager in den USA, die im Monat über 4000 SMS senden und bekommen  - im Durchschnitt. Molly Bloom hat inzwischen einen sehr schnellen Daumen.

Und der Strom besteht nicht mehr nur aus Texten, Bildern und abgeschlossenen Videoclips. Skype, selbst ein Unternehmen für gestreamte Kommunikation in Echtzeit, hat Anfang 2011 die Firma Qik für 100 Millionen Dollar gekauft. Deren Software macht aus dem Handy eine Webcam, die auf Knopfdruck Bild und Ton live überträgt und im Netz speichert, ähnlich wie Filme auf Youtube. Beim Start einer solchen Livesendung werden automatisch die digitalen Kontakte informiert, können mit einem Klick in Echtzeit zusehen und per Chat mitteilen, was sie davon halten. Wenn in den üblichen, internethysterischen Kreisen erst bekannt wird, dass jeder Dreizehnjährige mit seinem Handy live senden kann, dürfte schnell das Horrorzerrbild einer Mischung aus iShareGossip und Google Street View entstehen. Ganz abgesehen von der gesetzlichen Komponente, die in Deutschland ins leicht Absurde spielt. Die Bayerische Landeszentrale für Neue Medien  interpretiert Streams mit mehr als 500 potentiellen Zuschauern gleichzeitig unter Umständen als genehmigungspflichtige Konkurrenz zu regionalen Fernsehanbietern und verlangt dafür eine bis zu 2500 Euro teure Sendelizenz.

Es darf ständig alles passieren, außer: nichts

Die vielen verschiedenen Informationsströme, denen der Normalnutzer in sozialen Medien begegnet, verändern auch die Erwartung des Publikums gegenüber den professionellen Medien. Es darf ständig alles passieren, außer: nichts. Das journalistische Instrument des Newstickers, Vorläufer des Newsfeeds von Facebook, schwappte schon in den neunziger Jahren zumindest ästhetisch in den Zuschauerraum. Fernsehsender begannen, mehr oder weniger sinnvolle Informationen in Laufbänder am unteren Rand des Bildschirms zu pressen. Und gerade, als Bildungs- und "BILD"-Bürgertum akzeptieren mussten, dass die schnellen Schnitte auf MTV (das war mal ein Musik-Fernsehsender) das Gehirn zumindest nicht sofort zerstören, verwandelte sich mit dem Internet die moderate Reizüberflutung des 20. Jahrhunderts in einen ständigen Strom. Falls je die Illusion bestanden haben sollte, man könne der Informationsfluten Herr werden, hat das verstreamte Internet sie vollends zerstört.

Peter Glaser hat in der Wochenzeitung "Freitag" skizziert , dass der zunehmende Tickerjournalismus - die journalistische, manchmal etwas hilflos-hysterisch wirkende Reaktion auf die Verstreamung der Welt - die Konsequenz einer kulturellen Umwälzung ist: "Die alten Formen, in denen Kulturprodukte gebündelt waren, zerfallen in Folge der Digitalisierung und Vernetzung. (…) Nine to Five war gestern, jetzt ist Immer." Wir müssen uns Sisyphus als jemanden vorstellen, der sein Facebook-Newsfeed vollständig durchlesen will. Zur Bewältigung dieser nachrichtlichen und privaten Informationsströme hat sich beim Publikum eine neue Haltung entwickelt. Den Leitspruch dafür hat 2008 in der "New York Times" ein namentlich nicht genannter amerikanischer Student geprägt : "If the news is that important, it will find me" (wenn die Nachricht wichtig ist, wird sie mich schon erreichen).

Der beste Trick, den Strom der Welt anzuhalten: Augen zu

Diese Einstellung ist eine Art Informationsdarwinismus und ein sehr zukunftsfähiger Umgang mit der Verstreamung der Welt, weil sie unabhängig davon funktioniert, um wie viele Millionen Male das Datenangebot die eigene Aufnahmefähigkeit übertrifft. Kulturkritisch ließe sich das sicher als Infokapitulation werten, aber solche Maßnahmen erscheinen immer ratsamer, denn heutige Ticker und private Streams sind noch sehr weit von dem entfernt, was technisch längst möglich ist. Neue Plattformen wie voyurl.com  oder clickstreem.com  zum Beispiel veröffentlichen mithilfe einer Browser-Erweiterung automatisch alle Webseiten, die man besucht. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis Facebook oder dessen Nachfolger als Social Network du jour ein solches Instrument in den Stream integriert. Spätestens dann wird man öffentlich nachvollziehen können, womit sich jemand beschäftigt und was ihn beschäftigt, kurz: Man wird mithilfe des ständigen Streams der betrachteten Webseiten seine Gedankenwege verfolgen können.

Molly Blooms nächtlicher, innerer Gedankenstrom, vor 100 Jahren literarische Avantgarde, ist heute nach außen gewendet eine Blaupause für den personalen Informationsfluss in der sozialen Technologie. Da James Joyce am 13. Januar 1941 starb, ist die 70-Jahres-Frist für den urheberrechtlichen Schutz seiner Werke vor drei Monaten abgelaufen. Deshalb war es möglich, eine Facebook-Seite einzurichten, auf der Molly Blooms Stream of Consciousness, das letzte Kapitel von "Ulysses", in den kommenden Tagen und Wochen nach und nach veröffentlicht wird . Den dort abgebildeten Gedankenstrom kann man auch als künstlerische Vision der heute üblichen Verschiebung der Filterhoheit interpretieren: Je weniger die Absender ihren Datenfluss filtern, desto besser muss der Empfänger filtern. Wem das zu anstrengend ist, dem zeigt der Schluss von "Ulysses" vielleicht eine simple Lösung, um dem Dauerstream der Zukunft zu entkommen: Molly schläft im Bett liegend wohl einfach wieder ein. Es ist der älteste und noch immer beste Trick, den Strom der Welt anzuhalten: Augen zu.