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S.P.O.N. - Die Mensch-Maschine Plädoyer für die Beschleunigung...

...und für eine Kultur des Verpassens: Hektik, meint S.P.O.N.-Kolumnist Sascha Lobo, ist keine schlechte Sache. Man muss nur wissen, wie man sie genießen kann. Und sich dem Overload richtig entzieht.

Wenn man einen beliebigen Abteilungsleiter in der Flughafenlounge fragt, wird er mit dem Daumen am Blackberry zwischen zwei Telefonkonferenzen mit seinem Dienst-Dritthandy bestätigen, dass Hektik die Geißel der Menschheit sei. Nur durch das per MMS verschickte Foto eines Faxes unterbrochen, wird er betonen, dass deshalb Entschleunigung sehr wichtig sei. Er selbst besuche jeden Samstag von 11 Uhr bis beinahe 11.30 Uhr einen Biomarkt bei ihm im Viertel und lasse die Seele baumeln. Während er die Kinder zur Schule fahre, mache er manchmal sogar das Handy aus oder jedenfalls leise, Quality Time! Entschleunigung ist gerade unter denen, die damit gar nichts zu tun haben, ähnlich konsensfähig wie Helmut Schmidt, den noch jeder Vizelandrat der CSU ohne Scham als Vorbild angibt.

Aber Entschleunigung stinkt.

Dahinter steht der reaktionäre Fetisch der Langsamkeit. Was langsam ist, verheißt Kontrollierbarkeit, Geschwindigkeit ist ein Zeichen von Kontrollverlust. Aus diesem Grund war der "Sturm auf die Bastille" kein "Spaziergang zur Bastille", aus diesem Grund existiert das preußische Diktum "Ruhe ist die erste Bürgerpflicht".

Entschleunigung ist der Wunsch der Rückkehr zu einer behaglichen, handzahmen Langsamkeit und bezieht sich auf die digital vernetzte Lebensrealität der westlichen Welt, die sich in der Tat immer schneller zu verändern scheint. In seinem famosen Buch "Everything Bad is Good For You" schreibt Steven Berlin Johnson geschwindigkeitsfroh: "Die Anpassung an eine sich stetig beschleunigende Abfolge von neuen Technologien trainiert den Geist, komplexe Systeme zu erforschen und zu beherrschen."

An diesem Training ist nichts falsch. Im Gegenteil, es handelt sich um die biologische Reaktion namens Stress, die Lebewesen seit jeher beim Überleben hilft. Stress ist etwas Gutes. Erst in der falschen Dosierung wirkt er schädlich, wie ungefähr alles andere auch.

Das beste Mittel gegen Überforderung: Versäumen lernen

Der Stressfaktor Beschleunigung ist wie die Effizienzsteigerung unbedingter Teil des Fortschritts. Umzingelt von Wutbürgern im Bewahrwahn kann man nicht oft genug schreiben, dass Fortschritt gut ist, wenn man absieht von irrlaufenden Quatschtechnologien wie Atomkraft oder Käfighaltung am Futterfließband. Wer sich der Entschleunigung halber zurückwünscht in eine gemächliche Manufactum-Vergangenheit ohne Industrieproduktion, hat einfach zu viele Landliebe-Werbespots gesehen: Die Welt braucht mehr und besseren Fortschritt, nicht weniger.

Die Überforderung aber, der sich weite Teile der Gesellschaft zu Recht ausgesetzt sehen, wird von den Entschleunigungsapologeten der zunehmenden Geschwindigkeit angelastet. Das ist Unsinn. Richtig ist, dass der falsche Umgang mit der Beschleunigung überfordernd wirkt - ein entscheidender Unterschied, denn aus der einen Perspektive unterstellt man der Welt den Fehler, aus der anderen ist die individuelle Reaktion das Problem. Entschleuniger fordern ein kälteres Feuer, weil sie sich beim Kochen verbrennen.

Soll man also mit der bürobetrieblichen Beschleunigungsdroge Koffein seinen Puls täglich zwölf Stunden lang auf einen Wert knapp unterhalb des Herztods treiben? Natürlich nicht. Ein großes Missverständnis ist, dass Entschleunigungsgegner rund um die Uhr hektischen Aktionismus betreiben. Vielmehr kann die stressende, bereichernde Teilnahme an der digitalen Hochgeschwindigkeitsgesellschaft sowieso nur phasenweise erfolgen, unabhängig von der jeweiligen Beschleunigung.

Noch in den langsamsten Winkeln der Gesellschaft haben die Leute manchmal das Bedürfnis, die Tür zuzuschlagen und ganz für sich zu sein mit der eigenen Umdrehungszahl zwischen null und Nina Hagen. Statt mit der Entschleunigung eine Zeitlupenrealität herbeizusehnen, muss eine Kultur des Verpassens entwickelt werden: die Fähigkeit, den schneller werdenden Passierstrom an sich vorbeirauschen zu lassen, wann immer es notwendig erscheint. Es ist gut und sinnvoll, auf dem rasenden Wellenkamm des Fortschritts zu reiten, sich die Gischt ins Gesicht peitschen lassen - und dann die Tür zuzumachen und alles mit Absicht zu verpassen, ohne sich deshalb schlecht zu fühlen.

Die Kultur des Verpassens steht der Teilnahme am turbulenten Techniktrubel gegenüber und ist wie Wachzustand und Schlaf überhaupt erst im Wechselspiel wirksam. Genau wie den Umgang mit der beschleunigenden Technologie muss man das Versäumen lernen, das beste Mittel gegen die Überforderung. Diese Kultur des Verpassens ist das Eingeständnis, dass die Welt zu schnell ist, egal wie schnell sie ist. Deshalb ist Entschleunigung keine Lösung, sie kann sogar gefährlich sein, weil sie wie das lauwarme Nichtschwimmerbecken ist. Man hält es ewig darin aus, aber lernt niemals schwimmen.