S21: Kretschmann in der Schlangengrube (1)

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Also das hat jetzt gerade noch gefehlt: Rainer Brüderle, die irrlichternde Weinkönigin der FDP, attestiert den Grünen „Scheinheiligkeitsschema F: populistischer Wahlkampf in der Opposition gegen Großprojekte, die dann in der Regierungsverantwortung abgenickt werden“. Nur noch unglaubwürdig seien sie, diese Grünen. „Den Praxistest bestehen sie nicht“. Und im Nichtbestehen von Praxistests, da haben sie ja Erfahrung, der Brüderle und seine Fumpels.

j.mp/l5Vqph

Meisterlich war zum Beispiel, wie das Brüderle beim Rückwärtssalto Atomkraft verbal-diarrhoetisch versehentlich sein großes Schwesterle verpetzte und dann ganz schnell ganz empört zurück ruderte und den Eindruck erweckte, die, die das protokolliert hatten, hätten gelogen. Das freute damals sogar die Grünen: „Die Vize-Vorsitzende der Grünen-Fraktion im Bundestag, Bärbel Höhn, sagte „Handelsblatt Online“, zwar wundere es sie nicht, dass Brüderle das Atom-Moratorium vor Industrievertretern mit den anstehenden Landtagswahlen begründet habe. „Es ist aber gut, dass er es ehrlich gesagt hat.“

j.mp/igEw3n

www.freitag.de/community/blogs/seriousguy47/supergau-im-luegenbau-ein-kleines-plagiat-zur-aktuellen-lage

Dumm nur: die „Ehrlichkeit“ war ein Versehen, eine Panne. Und deshalb stört den Brüderle auch ganz besonders, was derzeit so viele stört: „Kretschmann bleibt unverdrossen ehrlich“, wie Renate Allgöwer in der StZ meint. „Er hat es sich halt nicht abgewöhnt, auf Fragen zu antworten.“

j.mp/lkPEY9

Das muss das Brüderle natürlich umso mehr stören, als sein kleines Schwesterle Silvana gerade am Guttenberg-Syndrom leidet und ihren Doktortitel aberkannt bekommt, weil die „Doktor“-Arbeit „in substanziellen Teilen aus Plagiaten besteht.“ Oh. Da muss das Brüderle jetzt aber gaanz laut „Haltet den Dieb“ schreien. Klar.

www.faz.net/-01x845

Dazu kommt die Kränkung durch die miserablen aktuellen Umfragewerte der FDP, die endgültig klar zu machen scheinen, dass die FDP von den Grünen uneinholbar überflügelt worden ist. In Baden-Württemberg kommt noch die zusätzliche Schmach dazu, dass ausgerechnet die Grünen nunmehr an die Tradition der ersten und einzig nicht CDU-geführten Regierung unter dem Liberalen Reinhold Maier vom 25. April 1952 bis 7. Oktober 1953 anknüpfen – und diese womöglich auch noch erfolgreich fortführen könnten. Die FDP selbst hatte nie auch nur den Hauch einer Chance dazu.

de.wikipedia.org/wiki/Reinhold_Maier

Ja, einGespenst geht gerade um in Deutschland. Huhu, haha. Es ist der offene und ehrliche Politiker . Er sagt, was er denkt und er denkt parteipolitisch völlig unkorrekt. Grau ist er, tapsig schwäbelt er. Sein Name: Winfried Kretschmann. Der FOCUS nennt ihn den Vorzeige-Grünen. Die grüne Basis findet das gar nicht und würde ihn am liebsten eine Zeit lang verstecken – zumindest solange er Respekt für Merkels Atom-Ausstiegs-Kehrtwende bekundet.

j.mp/kz0ONn

www.tagesspiegel.de/politik/angela-merkel-verdient-grossen-respekt/4277992.html

Nicht genug damit. Edzard Reuter, der Alptraum aller Industriekapitäne und Kapitalist mit sehr loser Kapitalistenmoral, spricht in der taz (sic!) von einem sehr soliden Neubeginn in Baden-Württemberg: „Mit Herrn Kretschmann an der Spitze wird eine außerordentlich vernünftige, bedachtsame Regierung an der Macht sein. Natürlich wird das Bündnis versuchen, eigene Politiken durchzusetzen, aber sie werden bedachtsam sein und Rücksicht nehmen auf die gewachsenen Strukturen des Landes.“ Und er teilt sogar Kretschmanns Einschätzung der Ausstiegs-Entscheidung der Kanzlerin: „Der Bundeskanzlerin, die ja in vielerlei Hinsicht sehr durch ihre eigene technische Erziehung geprägt ist. Der nehme ich ab, dass sie nun tatsächlich, endlich, durch diesen Vorgang in Japan gemerkt hat, dass das bisherige Vertrauen auf die rein technischen Annahmen, unsere Anlagen seien sicher, nicht stimmt. Ich nehme ihr ab, dass sie wirklich bereit ist, neu zu denken. Aber weite Teile ihrer Partei sind davon noch weit entfernt.“ Skandalös, skandalös, was sich da so an bösen alten Männern zusammenfindet......

j.mp/gbb9l8

Und selbst der Stuttgarter Widerstand weigert sich – ob wohl in Teilen gar nicht so alt - hartnäckig, dem Kretschmann den Bruch von Wahlversprechen vorzuwerfen, die er gar nicht gemacht hat. www.bei-abriss-aufstand.de/2011/06/10/landesregierung-lasst-bahn-auflaufen/

www.taz.de/1/zukunft/schwerpunkt-stuttgart-21/artikel/1/na-denn-protest/

www.dradio.de/dkultur/sendungen/interview/1479770/

Da muss selbst die mit jeder Jauche gewaschene BILD ganz tief in die Verleumdungs-Trickkiste greifen. Fett prangt die Überschrift „Hat Kretschmann sein Wahlversprechen gebrochen?“. So ist das Gift schon mal im Hirn. Und die Antwort ein paar Zeilen tiefer hat gute Chancen, überlesen zu werden: „Nein, denn es ist noch längst nicht entschieden, ob das Bahnprojekt „Stuttgart 21“ tatsächlich verwirklicht wird. Das wird sich wohl erst im Herbst nach einer Volksabstimmung entscheiden.“

j.mp/jb26fw

Skrupelloser als BILD ist da die Linkspartei. Sie hat schließlich keine Leser zu verlieren: "Offenkundig geht es den Grünen nur um die Machtpfründe und nicht um den Wählerwillen", kommentiert Ulrich Maurer den Verzicht der baden-württembergischen Landesregierung auf einen Baustopp beim Großprojekt Stuttgart 21.... Im Wahlkampf wetterten die Grünen gegen das 10-Milliarden-Grab Stuttgart 21. Heute – nur 10 Wochen später - sind sie nicht bereit, das äußerst geringe finanzielle Risiko eines Baustopps einzugehen, der Milliardenausgaben verhindern könnte. Erst einmal an den Schalthebeln der Macht angekommen, knicken die Grünen... schlicht ein. Man muss sich fragen, wer in Baden-Württemberg eigentlich das Sagen hat: Die SPD oder die Wirtschaftsunternehmen? Die Grünen sind es jedenfalls nicht. Sie haben bereits kurz nach ihrem Machtantritt ihre Wähler verraten."

bit.ly/ifK53m

Oder:»Es ist doch verwunderlich, wie schnell man durch Amt und Pöstchen seine Meinung drehen kann«, erklärte er in Berlin. »Daß nun Innenminister Gall [SPD] unter dem grünen Ministerpräsidenten Kretschmann Sitzblockaden räumen läßt, zeigt das Ausmaß des grünen Wahlbetrugs.«

www.jungewelt.de/2011/06-15/057.php

Keine Ahnung, die aber dafür umso lauter. Und wer jetzt denkt, dass die Linke aber doch auch zum Widerstand gegen S21 gehöre und deshalb wenigstens ein bisschen solidarisch sein müsse, der muss leider lernen, dass der maßgebliche Slogan heißt „Hoch die INTERnationale Solidarität“. Von national, regional oder gar kommunal ist da nicht die Rede, gell? Und außerdem hat Maurer, wie schon Brüderle, natürlich auch etwas zu verbergen. Er war 1996 maßgeblich daran beteiligt, den BÜRGERLICHEN S21-Gegner Schlauch als OB von Stuttgart zu verhindern.

www.zeit.de/1996/47/Borniert_und_arrogant

www.zeit.de/1996/50/Mirakel

www.zeit.de/1996/51/Der_ewige_Verlierer

Auch da spielt wohl die Geschichte eine Rolle, hat es doch bereits die SPD nie verwinden wollen, dass sich da in den Köpfen von 68er (Groß-)Bürgerkindern zeitweise linke Theorie breit machte. Später, als ein Teil der Bewegung sich via Grün wieder auf das Herkunftsmilieu zurück bewegte sah man sich bestätigt – ganz besonders in Baden-Württemberg, wo das Stimmenreservoir ohnehin schon knapp war. Und diese Einstellung hat Maurer dann wohl zur Linken mitgenommen, wo man sie scheinbar immer noch eifersüchtig pflegt, ohne zu kapieren, dass man ohne diese spezielle Verbindung zur Mitte nie regierungsfähig sein wird.

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Geschrieben von

seriousguy47

Anglophiler Pensionär und Flüchtlingsbetreuer aus Stuttgart.

Wehrdienst, Studium ( Anglistik, Amerikanistik, Empirische Kulturwissenschaft, Sozialpädagogik) , Praktikum ( Primärtherapie), Lehramt, Flüchtlingsbetreuung

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