"Schon bei Kleinkindern werden Arbeitnehmer-Kompetenzen abgefragt"

Wie die Wirtschaft Erziehung und Schulbildung steuert - ein Gespräch mit Autorin Felicitas Römer

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Ungestört Spielen war einmal - heutzutage werden Kinder ständig beobachtet, müssen Normen erfüllen und Schlüsselkompetenzen nachweisen. Bereits die Kleinsten singen auf Englisch oder kommen zum Bewegungstherapeuten, wenn es mit dem Rollerfahren nicht recht klappen will. Kaum in der Schule, wird gezittert: Klappt der Übertritt auf das Gymnasium? Nachhilfe wird zum ständigen Begleiter vieler Schullaufbahnen.

Doch woher kommt eigentlich der ganze Druck? In ihrem Buch Arme Superkinder zeigt Felicitas Römer , wie die Bildung von Kindern zunehmend wirtschaftlichen Interessen unterworfen wird - und wie Eltern sich gegen den Förderwahn wehren können. Telepolis sprach mit der in Hamburg lebenden Journalistin und Familienberaterin.

Es ist noch gar nicht so lange her, da war Kindsein in Deutschland eine relativ entspannte Sache. Heute ist das nicht mehr so. Was hat sich in den letzten Jahren verändert?

Felicitas Römer: Der Leistungsdruck ist gestiegen, an Kinder werden höhere Anforderungen gestellt. Das liegt zum einen daran, dass es immer weniger Kinder gibt, also in den Familien meist ein oder allenfalls zwei Kinder. Eltern mit nur einem Kind hoffen natürlich, dass das besonders gut "gelingt". Wenn Eltern mehrere Kinder haben, dann relativieren sich ihre Erwartungen an das einzelne Kind meist ein bisschen. Der andere Faktor ist, dass der wirtschaftliche Druck einfach zunimmt. Wettbewerb durch Globalisierung ist da ein ganz wichtiges Stichwort. Die Angst vor Arbeitsplatzverlust oder die Angst, überhaupt erst gar nicht reinzukommen in Arbeitsverhältnisse, ist weit verbreitet.

Mit einem guten Realschulabschluss, einem guten Hauptschulabschluss hatte man früher durchaus noch die Chance, einen Arbeitsplatz zu finden und ein gutes Leben zu führen. Das hat sich stark verändert. Abitur gilt heute als das Maß aller Dinge.

Sie selbst haben vier Kinder. Das älteste wurde in den 80er Jahren geboren, das jüngste 2003. Was war früher anders?

Felicitas Römer: Ich habe das als sehr viel entspannter erlebt als heute. Ich habe im Laufe der Jahre sehr viele sogenannte Elterngespräche mit Erziehern und Lehrern geführt - und daran kann man sehr gut merken, wie sich der Blick auf Kinder verändert hat. Das Kind wird inzwischen nicht mehr so genommen, wie es ist. Mein jüngster Sohn mochte zum Beispiel im Kindergarten nicht malen und das haben die Erzieherinnen mit großer Sorge beobachtet, weil er dann angeblich in der Schule Schwierigkeiten mit dem Schreiben haben würde. Hat er aber überhaupt nicht. Also völliger Unsinn!

Kinder müssen also von Anfang an in allen Bereichen Normen erfüllen. Wer bestimmt eigentlich die Kriterien? Welche Interessen stecken dahinter?

Felicitas Römer: Es sind immer mehr wirtschaftliche Interessen, die Einfluss auf die Bildung unserer Kinder nehmen. Und das wird derzeit von der Politik auch unterstützt. Das hat mit der Sorge um das Wirtschaftswachstum zu tun, das angesichts der demografischen Entwicklung und der Globalisierung nicht mehr dauerhaft gesichert zu sein scheint.

Ein gutes Beispiel dafür, wie Wirtschaft sich immer mehr in Bildung einmischt, sind die so genannten Kompetenzerfassungsbögen für Kita-Kinder: Hier werden schon bei Kleinkindern exakt die Schlüsselkompetenzen abgefragt, die die OECD - also eine hochrangige und international agierende Wirtschaftsinstitution - für Arbeitnehmer definiert hat. Und Unternehmensverbände und Handelskammern fordern ganz offen, dass Schule die Schüler maximal auf den Arbeitsmarkt vorbereiten soll. Auch die Schulzeitverkürzung war keine Idee von Lehrern und Pädagogen, sondern von der Wirtschaft. Hier geht es um Konkurrenzfähigkeit.

Und natürlich darum, Geld zu sparen. Sponsoring-Programme sind einer weitere beliebte Strategie von Unternehmen, sich in der Schule "breit" zu machen: Ob mit kostenlosem Info-Material von Atomkraftbetreibern, Lernsoftware oder dem Angebot, kostengünstig Notebooks zu kaufen: Immer mehr Konzerne sind aus den Schulen gar nicht mehr wegzudenken, weil den staatlichen Schulen das Geld fehlt.

Nachwuchs für den Arbeitsmarkt

Ein großer Motor der Druckmaschinerie war die Pisa-Studie. Hier wurden scheinbar objektiv Fähigkeiten von Schülern abgefragt. Was stimmt nicht an dieser Sichtweise?

Felicitas Römer: Naja, zunächst ist die OECD, die die Pisa-Studie durchgeführt hat, ja kein Pädagogenverband, sondern die "Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung". Was hier als Bildungsstudie daherkommt, ist doch letztlich nur ein Leistungstest, der ausgewählte, relativ leicht zu messende Kompetenzen abfragt. Alles andere, was unsere Kinder können, worin sie fit und sicher sind, wie sozial und teamfähig sie sind, wird natürlich nicht gemessen und fällt somit unter den Tisch.

Bei der Pisa-Studie geht es zudem um Vergleichbarkeit, das hat immer etwas mit Verwertbarkeit zu tun, also mit marktwirtschaftlicher Nutzbarmachung. Und das ist wenig auf die Bedürfnisse des Kindes ausgerichtet, sondern auf wirtschaftliche Interessen. Wie Wirtschaftsvorgaben zu allgemeingültigen Kriterien gemacht werden, zeigt sich auch an anderen Stellen: Es gibt zum Beispiel kostenpflichtige Berufseinschätzungsbogen für Gymnasiasten - da werden aber nur kognitive Sachen abgefragt. Alles Künstlerische, Musikalische, Handwerkliche, Soziale bleibt außen vor, kommt überhaupt nicht vor in diesem Regelkanon. Warum macht man denn so einen Test? Die Welt öffnet sich für alles Mögliche und wir verengen uns immer mehr auf ein paar bestimmte Qualifikationen. Das ist absurd.

Im Zuge der von Pisa ausgelösten Debatte wird gerade von Politikern viel von Bildung, individuellem Lernen und Chancengleichheit geredet. Das sind alles Punkte, die auch Eltern unterstützen könnten. Es klingt toll - doch werden diese Forderungen erfüllt?

Felicitas Römer: Es gibt Ansätze. Individualisierter Unterricht ist beispielsweise ein Erfolgsmodell, das aber nicht flächendeckend umgesetzt wird. In der Frage der Chancengleichheit wird viel darüber diskutiert, ob man die Kinder länger gemeinsam lernen lässt oder ob man sie früh voneinander trennt. Was Bildung anbelangt, so scheint dies zur Zeit zwar ein gerne genutztes Schlagwort zu sein, das aber immer weniger erfüllt wird. Bildung ist etwas Tiefergehendes, wofür Zeit gebraucht wird. Doch gerade Zeit wird den Kindern immer mehr genommen, G8 ist ein gutes Beispiel dafür. Es wird viel geredet über Bildung, aber eigentlich geht es darum, den passenden Nachwuchs für den Arbeitsmarkt heranzuzüchten.

Warum lassen sich Politiker hier vor den Karren der Wirtschaft spannen?

Felicitas Römer: Das verstehe ich, ehrlich gesagt, auch nicht so ganz. Ökonomie ist ja inzwischen in allen Lebensbereichen sehr dominant. Vielleicht hängt das mit der demographischen Entwicklung zusammen, die die Politiker vor neue Herausforderungen stellt und damit auch überfordert. Dann sind sie für solche Ideen wie 'Kinder müssen schneller mit der Schule fertig werden' etc. einfach anfällig. Es ist natürlich auch einfach eine Lobby-Frage. Die Wirtschaft hat halt eine starke Lobby. Kinder haben wenig Lobby.

Wie Sie in ihrem Buch darlegen, wird das öffentliche Bildungssystem nahezu kaputtgespart und dann mit wirtschaftsorientierten Messinstrumenten wie Pisa für bankrott erklärt - die privaten Unternehmen werden hingegen als Heilsbringer dargestellt. Das erinnert an den Umgang mit der staatlichen Rente und den gesetzlichen Krankenkassen.

Felicitas Römer: Ein bisschen sieht das zumindest so aus. Es ist ja verwunderlich, warum wir aus der Pisa-Diskussion so wenig positive Konsequenzen ziehen. Ein Ergebnis der Studie war - da waren sich die meisten einig darüber -, dass das längere gemeinsame Lernen besonders zum Nutzen derer ist, die schlechte Chancen auf dem Arbeitsmarkt haben. Trotzdem findet es kaum statt. Hamburg ist ein gutes Beispiel: Hier wurde die vom Senat beschlossene Einführung der sechsjährigen Primarschule letztes Jahr per Volksentscheid http://www.heise.de/tp/artikel/32/32982/1.html gekippt. Es gibt eben immer Leute, die alles lieber so haben wollen, wie es bislang läuft. Das sind diejenigen, denen es gut geht.

Hinzu kommt die Tendenz, dass Bildung immer mehr zur Privatsache wird. Wenn ein Kind in der Schule nicht mitkommt, dann hat es entweder Eltern, die es fördern können - über Nachhilfe oder eine Therapie - oder es bleibt auf der Strecke. Und das ist eigentlich der Skandal. Die Kinder, die von ihrer Herkunft her sowieso schon im Vorteil sind, kommen wahrscheinlich gut durch. Kinder mit schlechten Voraussetzungen werden aussortiert. Auch Kinder mit vielen Geschwistern sind beispielsweise benachteiligt, zumindest vom finanziellen Standpunkt. Wenn ich selbst für vier Kinder Nachhilfe hätte bezahlen müssen oder wollen - das wäre ja gar nicht gegangen.

Nachhilfe - nichts für jedermann

Der private Bildungsmarkt verdient sehr gut an der Angst der Eltern. Doch die Absichten der Wirtschaft gehen sehr viel weiter. Sie zitieren in Ihrem Buch einen Verband, der behauptet, dass staatliche Schulen klarerweise auf Dauer durch private ersetzt werden müssten. Haben Sie solche Aussagen erstaunt?

Felicitas Römer: Was mich vor allem schockt, ist, dass diese Pläne frei zugänglich sind, die Öffentlichkeit aber trotzdem kaum darauf reagiert. Das, was Sie hier anführen, ist die Vereinigung der hessischen Unternehmerverbände, die die Politik auffordert, dafür zu sorgen, dass bis zum Jahr 2015 alle Schulen privatisiert sind. Vor allem will der Verband, dass Schule als soziale Einrichtung abgeschafft wird und stattdessen in einen Dienstleistungsbetrieb umgewandelt wird. Solche Themen werden in der öffentlichen Diskussion natürlich nicht so breitgetreten, weil sie vielleicht noch auf Widerstand treffen könnten.

Darum finde ich es ja auch so fatal, dass man das Geld nicht wieder in die staatlichen Schulen reinbuttert, wo es hingehört und wo es dringend nötig ist. Man könnte Nachhilfe ja gut integrieren in die Schulen und private Nachhilfe überflüssig machen. Stattdessen etabliert man einen eigenen Wirtschaftszweig und nimmt in Kauf, dass immer mehr Eltern ihre Kinder auf Privatschulen schicken.

Angst macht gefügig

Dass die Wirtschaftsunternehmen sich den perfekten Arbeitnehmer formen wollen, ist aus ihrer Sicht ja verständlich. Doch warum nehmen Eltern das hin und setzen ihre Kinder selbst noch unter Druck?

Felicitas Römer: Das hat ganz viel mit der Sorge zu tun, also mit der Angst, dass es vielleicht später nicht genügen könnte, was man den Kindern mitgegeben hat. Ständig hören wir, welche Herausforderungen der globalisierte Arbeitsmarkt stellt und dass Minderqualifizierte auf der Strecke bleiben - und das hat einen ganz direkten Einfluss auf unser Erziehungsverhalten. Das Vertrauen darin, dass die Kinder sich gut entwickeln und es im Leben schaffen werden, dieses Vertrauen haben Eltern nicht mehr unbedingt. Der Druck von außen ist groß, es wird viel Angst produziert - und die macht natürlich auch gefügig. Denn wenn ich Angst habe, dass mein Kind auf der Strecke bleibt, bin ich sehr bereit, es so zu pushen, dass es die vorgegebenen Standards erfüllt. Das ist wenig kindorientiert, sondern zielt darauf ab, was Schule und Wirtschaft und der Arbeitsmarkt wünschen.

Und warum machen Erzieher und Lehrer den ganzen Förderwahn so unkritisch mit?

Felicitas Römer: Ich denke, dass es zum einen etwas mit einem vermeintlichen professionellen Anspruch zu tun hat. Das ist ja meistens auch nicht böse, sondern durchaus positiv gemeint, sie wollen den Eltern helfen. Doch betrachten viele ihre Schützlinge heute immer mehr mit einem defizitorientierten Blick. Es wird vor allem auf das geguckt, was noch nicht so gut läuft. Zum anderen stehen Erzieher und Lehrer aber natürlich auch selber unter Erfolgsdruck. Sie haben Angst, dass sie vielleicht irgendetwas übersehen und nachher dafür verantwortlich gemacht werden. Andererseits gibt es natürlich auch Eltern, die den kritischen Blick einfordern, die wissen wollen, wo sie ihre Kinder noch ein bisschen 'verbessern' können.

Nicht nur Schulkinder, sondern sogar Krippen- und Kindergartenkinder werden heutzutage bereits sehr differenziert in ihrer Entwicklung betrachtet. Ist das nicht auch positiv?

Felicitas Römer: Prinzipiell ist es absolut notwendig, das Kind liebevoll zu beobachten in seinen Schritten, in seiner Entwicklung. Das müssen Eltern, das müssen Erzieher, das müssen Lehrer. Aber es geht halt um liebevolles Beobachten, und nicht um dieses kritische Beäugen - das ist ein ganz großer Unterschied in der Haltung, die jemand mitbringt. Die beste Förderung für Kinder sind ohnehin mehr ungeteilte Zeit und Aufmerksamkeit.

Wie kommt man nun wieder weg von der verwertungsorientierten Erziehung? Wie kann man den Druck mindern, der auf Kindern lastet?

Felicitas Römer: Eltern sitzen natürlich am Schalthebel, was ihre Kinder angeht. Sie sollten dem Druck nicht komplett nachgeben, sondern kritisch bleiben. Auch Lehrer könnten die Anspannung mindern. Die neigen ja manchmal dazu, ihren Sachen furchtbar wichtig zu nehmen, statt zu sagen: 'Ist ja auch nur eine Note.' Oder: 'Nächstes Mal wird es halt besser.' Eltern und Lehrer könnten sich auch gegenseitig den Druck ein bisschen nehmen - anstatt sich ständig gegenseitig zu pushen. Zudem melden sich immer mehr Experten wie Hirnforscher oder Psychologen zu Wort, die darauf hinweisen, dass man Kinder kaputt macht durch überzogene Leistungsanforderungen. Diese Stimmen werden lauter und ich hoffe, dass sich dadurch auch ein bisschen was verändern wird.

In Ihrem Buch kommt der Satz vor: ''Wenn Kinder heute etwas nicht sind, dann unbeobachtet.'' Müssen wir Kinder einfach mehr sein lassen?

Felicitas Römer: Es gibt ja den schönen Begriff des "selbstgesteuerten Lernens". Kinder lernen alle grundlegenden Dinge fast wie von selbst. Aber eben nur, wenn die Zeit dafür gekommen ist - und das ist bei manchen Kindern früher und bei anderen später. Gutes Beispiel ist das laufen lernen. Kein Mensch sagt: 'So, jetzt lern' mal den ersten Schritt.' Die Kinder machen das aus einem inneren Programm heraus zum passenden Zeitpunkt selber und geben da sehr viel Energie dran. Und genauso funktioniert es auch mit anderen Dingen. Kinder, die später lesen lernen, die lesen ja nachher nicht schlechter als die, die früher damit angefangen haben. Was Kinder heute dringend brauchen, ist ein bisschen mehr Vertrauen.

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