Italien entreißt Berlusconi die Politik – Seite 1

Das italienische Referendum war keine simple Volksabstimmung über die Regierung Berlusconi. Es ging vielmehr um fundamentale Fragen wie die Einführung der Atomkraft und die Privatisierung der Wasserwerke. Beides stieß auf die Ablehnung der Wähler – wie auch die gesetzlich verbriefte Erlaubnis für Kabinettsmitglieder, als Angeklagte Vorladungen zu Gerichtsverhandlungen zu schwänzen, weil sie Wichtigeres zu tun haben.

Letzteres war eine der vielen ad-personam-Gesetze, die Silvio Berlusconi als Regierungschef durchgebracht hat. Insofern trifft ihn das Ergebnis des Referendums auch persönlich, die politische Ohrfeige wird ihn jedoch stärker schmerzen.

Denn der überwältigende Erfolg der gegen den erbitterten Widerstand der Regierung und ihrer Propagandamaschine erreichten Abstimmung zeigt: Die Italiener wollen die seichte Musik des Rattenfängers im Palazzo Chigi nicht mehr hören. Sie sind taub geworden für Berlusconis Flötentöne, sie vertrauen ihm nicht mehr, schon gar nicht, wenn es um existenzielle Fragen wie die Energieversorgung geht.

Vergebens hatte der Regierungschef den Wählern suggeriert, lieber ans Meer zu fahren, anstatt ihre Zeit in den Wahllokalen zu verschwenden. Die zynische Einladung, auf Bürgerrechte zu verzichten, wurde in den Wind geschlagen, denn der Wind hat sich gedreht.

Bereits vor zwei Wochen hatte der Regierungschef bei Kommunalwahlen eine empfindliche Niederlage hinnehmen müssen. Seine Kandidaten konnten sich nicht durchsetzen, stattdessen wurden in den Metropolen Mailand und Neapel Bürgermeister gewählt, die von keiner großen Partei, dafür aber von den Hoffnungen der Bürger getragen werden.

Dass jetzt nach 24 Volksabstimmungen ohne Resultat – das nötige Quorum von 50 Prozent wurde nie erreicht – eine stabile Mehrheit von 57 Prozent die Atompolitik der Regierung vereitelte, darf durchaus als kleine Revolution bezeichnet werden. Denn es sieht ganz so aus, als würden die Italiener das Zepter, das sie vor nunmehr 17 Jahren aus Staatsverdrossenheit dem Populisten Berlusconi überreichten, nun wieder selbst in die Hand nehmen wollen.

 Die Italiener sind ihre Politiker leid, nicht die Politik

Italiens Wähler sind ganz offensichtlich ihre Politiker leid, nicht aber die Politik. Das haben nicht wenige Vertreter der Berlusconi-Partei "Volk der Freiheit" und des Koalitionspartners Lega Nord begriffen und ihrem Chef erstmals öffentlich widersprochen. Sogar die neu geschaffene Fraktion der "Verantwortlichen", deren politisches Projekt aus der Vasallenschaft für Berlusconi besteht, bröckelt. Eine frisch ernannte Staatssekretärin trat ihr Amt überraschend doch nicht an. Begründung: Gewissensbisse.

So schwindet die Macht der alten Männer Berlusconi (74) und Lega-Führer Umberto Bossi (70). Sie aber wollen die Zeichen der Zeit nicht verstehen: Wenn große Parteien die Gunst der Wähler verlieren, so reagieren sie darauf normalerweise mit personellen Veränderungen. Für das "Volk der Freiheit" und die Lega Nord ist das nicht möglich, weil sich beide Formationen vollkommen mit ihren Führern identifizieren.

Die Volksabstimmung läutet deswegen eine neue Phase in der italienischen Politik ein: Das Volk will sich nicht länger belehren und übervorteilen lassen. Die Politik aber kann darauf nicht reagieren. Noch nicht. Das gilt übrigens auch für die Opposition, die den Abstimmungserfolg zu Unrecht für sich verbucht – auch der Linken fehlen Kandidaten, die den Wunsch nach einem Neuanfang verkörpern könnten.

Per Volksabstimmung können in Italien keine neuen Gesetze herbeigeführt werden, es ist lediglich möglich, die vom Parlament verabschiedeten Normen abzuschaffen. Die Atompolitik der Regierung war auch in eigenen Reihen umstritten – beharrlich verweigerten die Ministerpräsidenten der von den Koalitionsparteien regierten Regionen die Gefolgschaft.

Nach der Katastrophe im japanischen Fukushima verfügte das Kabinett per Dekret ein Moratorium, für sechs Monate sollte die Planung für Atomkraftwerke ausgesetzt werden. Danach, so das Kalkül, könnte man getrost weitermachen, denn das Gedächtnis der Bürger sei kurz. Einst hatte Berlusconi die Italiener umschmeichelt und umworben, nun verachtet er sie offen und bekommt dafür die Quittung.

Im Italien des Berlusconismus' seien nur noch die Wahlen demokratisch, hat der Politikwissenschaftler Gian Enrico Rusconi einmal gesagt. Man glaubte schon, auch dieses Instrument sei im Populismus abgestumpft. Nun aber wird es eingesetzt und erweist sich als schärfer denn je. Am Tag nach der Volksabstimmung schrieb der sonst so konservative Corriere della Sera : "Wir waren Untertanen. Nun sind wir wieder Bürger."