Stell dir vor, es ist Wahl – und es gibt kein Wahlrecht – Seite 1

Deutschland hat ein Problem. Ab Juli ist es außerstande, ein elementares Grundrecht zu garantieren. Fänden dann nämlich Neuwahlen statt, gäbe es kein verfassungsgemäßes Gesetz, das diese regelt.

Der Grund dafür liegt in einem Urteil des Bundesverfassungsgerichtes vom Juli 2008. Damals erklärten die Karlsruher Richter das sogenannte negative Stimmgewicht bei den Bundestagswahlen für verfassungswidrig. Und setzten eine Frist: Bis spätestens Ende Juni 2011 sollte eine Änderung des Wahlrechts vorgenommen werden. In wenigen Tagen läuft diese Frist ab.

Bis heute hat der Gesetzgeber das Wahlrecht nicht korrigiert, der Bundestag brachte nicht einmal ein parlamentarisches Gesetzgebungsverfahren auf den Weg. Für Wahlforscher Joachim Behnke steht fest: "Der Bundestag muss das negative Stimmengewicht dringend beseitigen. Wenn die Frist einfach so verstreicht, wäre das nahezu ein Skandal."

Das negative Stimmgewicht muss also weg. Denn es kann dazu führen, dass ein Wähler mit seiner Stimme der gewählten Partei schadet. Nach dem bisherigen Wahlrecht kann eine Partei für mehr Stimmen weniger Mandate erhalten, und umgekehrt für weniger Stimmen mehr Mandate (siehe Infobox).

"Wenn Stimmen für eine Partei keinen Zuwachs an Sitzen, sondern einen Verlust derselben bewirken – die Stimmen also quasi ein negatives Gewicht erhalten – dann wird der Wille des Wählers ins Gegenteil verkehrt", sagt Wilko Zicht, Betreiber der Internetseite Wahlrecht.de. Er ist einer der Kläger, die 2008 das Urteil des Bundesverfassungsgerichtes bewirkten.

Doch wie lässt sich das Wahlrecht reformieren? Zicht sagt: "Man könnte zum Beispiel die Überhangmandate abschaffen oder ausgleichen." Diese seien Zusatzmandate, die eigentlich gar nicht von Wählerstimmen getragen werden. Überhangmandate beruhen darauf, dass eine Partei mehr Direktmandate in einem Bundesland durch Erststimmen gewonnen hat, als der Partei an Mandaten nach dem Anteil aus Zweitstimmen zusteht. Dementsprechend seien Überhangmandate sinnlose Prämien für schlechte Zweitstimmen-Wahlergebnisse, sagt Zicht.

Eine andere Möglichkeit wäre, die innerparteiliche Konkurrenz der Landesverbände abzuschaffen. Zicht: "Dann hätte man keine Sitzverteilung auf Bundesebene mehr, sondern 16 mal eine getrennte Sitzverteilung in jedem einzelnen Bundesland."

Eine vorgezogene Bundestagswahl wäre ungültig

Egal wie, ein neues Gesetz muss her. Die drei Oppositionsparteien SPD, Grüne und Linke haben dafür unterschiedliche Vorschläge vorgelegt. Die Koalition hingegen lässt sich Zeit. Kurz vor Ablauf der dreijährigen Frist haben Union und FDP noch keine gemeinsame Vorstellung davon, wie die Reform des Wahlrechts aussehen soll.

Die Opposition sieht darin eine ernste Gefahr. Käme es zu Neuwahlen, gäbe es kein gültiges Wahlgesetz. Volker Beck, parlamentarischer Geschäftsführer der Grünen, orakelt: "Es ist nicht ausgeschlossen, dass die Kanzlerin gezwungen wird, demnächst eine Vertrauensfrage zu stellen, die sie dann verliert. Und dann könnte es passieren, dass das Bundesverfassungsgericht bei einer Wahlbeschwerde, die sich gegen Überhangmandate richtet oder gegen das negative Stimmengewicht, tatsächlich sagt: Die Wahl war ungültig. Die Frage ist: Wer beschließt dann das verfassungskonforme Wahlgesetz, wenn wir keinen gewählten Bundestag mehr haben?" Eine Staatskrise wäre die Folge.

Dass die Koalition trotz dieser weitreichenden Folgen bisher kein neues Wahlrecht auf den Weg gebracht hat, liegt an ihrer Uneinigkeit. Streit gibt es vor allem um die Überhangmandate. Diese besitzt im Bundestag zurzeit nur die Union, 22 sind es nach aktuellem Stand.

Die Union will deshalb an den für sie so wertvollen Überhangmandaten festhalten. Denn sie können über einen Wahlsieg entscheiden. Das sieht auch Wahlforscher Behnke so: "Überhangmandate sind in der Lage, das Wahlergebnis zu kippen." Bei den nächsten Wahlen könnten die CDU-Überhangmandate beispielsweise einen Wahlsieg von Rot-Grün selbst bei absoluter Stimmenmehrheit verhindern. Schon vor der Bundestagswahl 2009 hatte sich die Union deshalb gesperrt, ein verfassungskonformes Wahlrecht auf den Weg zu bringen.

Nicht nur die Opposition, auch der Koalitionspartner FDP kritisiert, dass die Union nach wie vor an den Überhangmandaten festhalten will. Kein Wunder: Die Chancen der Liberalen, welche zu bekommen, sind äußerst gering. Die FDP ist vielmehr daran interessiert, die in den einzelnen Bundesländern abgegebenen Stimmen für eine Partei auch weiterhin bundesweit zusammenzuführen. Denn so profitiert sie auch weiterhin von den Stimmen, die die kleinen FDP-Landesverbände einsammeln.

Die Wahlrecht-Reform könnte also eine weitere Zerreißprobe für die Koalition werden. "Wir haben ganz schwierige Gespräche vor uns", sagt Jörg van Essen, parlamentarischer Geschäftsführer der FDP. Es sei absehbar, dass der Auftrag des Bundesverfassungsgerichts nicht bis zum 30. Juni erfüllt werden könne. Das Ziel der Koalition sei nun, bis zum Beginn der Sommerpause einen Gesetzentwurf vorzulegen. "Es ist ganz einfach eine hochkomplizierte Materie", sagt van Essen.

Während die Koalition also Gespräche führt und nach einer Lösung sucht, ist sich die Opposition einig: Das Problem der Überhangmandate muss angegangen werden. "Sollten Union und FDP eine Wahlrechtsreform verabschieden, die das Problem der Überhangmandate nicht löst, wird das Wahlrecht wieder in Karlsruhe landen", sagt Thomas Oppermann, der parlamentarische Geschäftsführer der SPD. Gleiches hat Volker Beck für die Grünen angekündigt.

Sollte sich trotz aller Aufregung nichts bewegen, muss im Zweifelsfall das Bundesverfassungsgericht das regeln, wozu es eigentlich Bundestag und Regierung aufgefordert hat. "Wenn nach dem 30. Juni eine Klage käme, was zu erwarten ist, dann könnte das Gericht diese Klage als Grundlage nutzen, um selber eine Übergangsregelung festzulegen", sagt Wahlforscher Behnke. Damit würde Karlsruhe die Rolle des Gesetzgebers übernehmen.