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Kultur Doku

Der Zusammenbruch im Maßstab eins zu eins

Leitender Redakteur Geschichte
Neuland für das Geschichtsfernsehen: Michael Kloft dokumentiert zwölf Stunden lang den 30. April 1945

Der Reichswetterdienst macht seine Arbeit. Für den letzten Apriltag, einen Montag, sagen die Potsdamer Meteorologen eine Höchsttemperatur von kühlen 11,5 Grad voraus, außerdem Böen und Nieselregen. Auch der "Heider Anzeiger", eine Lokalausgabe der Dithmarscher Landeszeitung", erscheint ganz normal. Auf der Titelseite bringt das Blatt einen Artikel über die Erfolge deutscher Landwirtschaftsexperten in den besetzten Gebieten. In Frankreich sei die Weizenproduktion unter deutscher Aufsicht um zwei Millionen Tonnen gesteigert worden, in Belgien habe die Anbaufläche für Getreide um neun und für Kartoffel um 14 Prozent zugenommen, in Norwegen würde nun in einigen Regionen sogar bis zu 80 Prozent mehr Grund bewirtschaftet. Auf der zweiten Seite feiert das Blatt unter anderem den NSDAP-Gauleiter Karl Hanke, dem der "Führer und Reichskanzler" Adolf Hitler das Goldene Kreuz des Deutschen Ordens verliehen hat.

Doch der Eindruck von Normalität trügt. Denn der 30. April 1945 war ein Wendepunkt der deutschen Geschichte. Der letzte Tag im Leben von Adolf Hitler. Der Tag, an dem sowjetische Truppen das Frauen-KZ Ravensbrück befreiten. Der Tag, an dem der Wehrmachtsbericht verkündete: "In erbitterten Häuser- und Straßenkämpfen halten Truppen aller Wehrmachtteile den Stadtkern Berlins. Ein leuchtendes Sinnbild deutschen Heldentums."

Diesem außergewöhnlichen Tag vor 66 Jahren widmet der Kölner Privatsender Vox jetzt ein außergewöhnliches Fernsehexperiment: Zwölf Stunden lang, von Mittag bis Mitternacht, geht es nur um diesen einen Tag. Der Historiker von Spiegel-TV und Dokumentarfilmer Michael Kloft hat alle bekannten Bilder und Erkenntnisse über diesen Tag gebündelt, durch erstmals gezeigte Originalbilder und mit bislang unberücksichtigten Texten ergänzt. Das Ergebnis ist ein anstrengendes, aber lohnendes Erlebnis.

Vox hat schon Mut bewiesen mit der Entscheidung, an Sonnabenden gegen den Dauerkrawall von "Deutschland sucht den Superstar" und die Shows von ARD und ZDF auf vierstündige Dokumentationen zu setzen. Die Quote für diese Themenabende, die den Senderdurchschnitt hielt und teilweise, vor allem bei Zeitgeschichtsthemen, sogar übertraf, belohnte dieses Risiko. Doch mit der Zwölfstunden-Schicht wagt sich der RTL-Tochtersender auf völliges Neuland: Nicht einmal die (gebührenfinanzierten) Spartenkanäle Phoenix und Arte haben sich auch nur ansatzweise Ähnliches getraut.

Michael Kloft gilt als der führende Zeitgeschichts- und NS-Experte im deutschen Fernsehen. Seine Produktionen setzten immer wieder neue Maßstäbe, etwa "Welche Farbe hat der Krieg?", in dem er zum ersten Mal die außerordentliche Wirkung echten Colorfilmmaterials für zeitgeschichtliche Dokumentationen vorführte. Sehr viele Zuschauer fand auch "Als der Krieg nach Deutschland kam", wo Kloft erstmals Material von Militärkameraleuten zeigte, die den Vormarsch der US-Army Stadt für Stadt und Dorf für Dorf dokumentiert hatten.

Für das Zwölfstunden-Programm hat Kloft viele seiner erfolgreichen und seinerzeit jeweils innovativen Dokumentationen überarbeitet und oft um neuere Erkenntnisse ergänzt. In dem Teil "Hitlers Tod: Der Bunker", zur besten Sendezeit um 20.15 Uhr im Programm, sind erstmals im frei empfangbaren Fernsehen die hervorragenden digitalen Rekonstruktionen des Führerbunkers zu sehen, die der Digitalexperte Christoph Neubauer erarbeitet hat.

Natürlich dreht sich der Großteil des Programms um Hitler und seinen Freitod. Wenige Szenen der deutsche Geschichte sind so intensiv erforscht, beschrieben und im Film umgesetzt worden wie die letzten gut zwölf Stunden im Leben des Diktators. Um drei Uhr morgens hatte sein oberster Militär, Generalfeldmarschall Wilhelm Keitel, per Funk auf eine Anfrage Hitlers geantwortet, dass mit dem erhofften militärischen Entsatz nicht mehr zu rechnen sei. Zu diesem Zeitpunkt war Hitlers verbliebenes Herrschaftsgebiet, das einmal von der Biskaya bis an die Wolga und vom Polarkreis bis zur Sahara gereicht hatte, kleiner als die Vatikanstadt; nur 130 Meter vom Führerbunker entfernt hatten sich sowjetische Stoßtruppen festgesetzt. Bald nach 15 Uhr an diesem Nachmittag setzte der "Führer und Reichskanzler" seinem Leben ein Ende.

Um diesen Aspekt drehen sich sechs der insgesamt 14 einzelnen, jeweils 25 bis 55 Minuten langen Dokumentationen. Obwohl diese Ereignisse dieser zwölf Stunden so ungeheuer oft durchleuchtet wurden, findet Kloft doch noch neue Aspekte - ein bislang unbekanntes Verhörprotokoll von Hitlers Sekretärin Traudl Junge etwa, das seinen Wert dadurch erhält, dass es die früheste Schilderung ihrer Erlebnisse am letzten Tag des Führerbunkers ist.

Ergänzt werden diese Filme durch Dokumentationen etwa über Goebbels, über den Kriegsbeginn und über Hitlers zweiten, nie fertiggestellten Rückzugsbunker im Obersalzberg. Jeweils zum Beginn jeder Stunde gibt es zudem ein kurzes Protokoll der historischen Ereignisse eben jener Stunde von 66 Jahren.

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Angesichts des vorausgesagten Frühsommerwetters am Sonnabend dürfte die Zuschauerzahl am Nachmittag vielleicht eher gering ausfallen. An der Qualität des Programms und am Mut seiner Macher ändert das jedoch nichts. Weitere Zwölfstunden-Schichten nach dem gleichen Schema sind bereits geplant, zum Beispiel zum 11. September 2001.

"Ein Tag schreibt Geschichte", Vox, Samstag von 12 bis 24 Uhr

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