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S.P.O.N. - Fragen Sie Frau Sibylle Nächstes Jahr werden wir leben

Früher nannte man es Klassenkampf, heute nennt man es Angestelltenverhältnis: Den ganzen Tag ducken, nach Dienstschluss in eine Bar. Den Stress wegsaufen - und auf den Sommer hoffen: Nicht der Urlaub ist der Ausnahmezustand, der Rest des Jahres ist es.

Sieben am Morgen. Irgendwo in Deutschland. In einer Großstadt. Umschlagplatz der Trambahnen. Umsteiger aus den Vororten, auf dem Weg in Büros. Wie Kinder, in Uniformen gezwängt von hektischen Eltern, viel zu früh. Die Gesichter blass, die Uniformen kratzen, sie müssen aus einem Kinderschlafgesicht ein Erwachsenengesicht machen. Schnell. Jetzt. Und ab in Büros, in Verkaufsräume. Nicht zu spät kommen, nur nicht. Solche Angst vor dem Zuspätkommen, dem Nichtgenügen, dem Ausgetauschtwerden. Von wem nur?

Manche haben vielleicht noch einen Chef - lebendig, jung, dynamisch. Ein Arschloch in jedem Fall. Oder einfach ein Vorgesetzter. Jung, dynamisch. Ein Arschloch. Ein Alphatier. Aber mit Führungsqualität. Wo ist der Führer eigentlich, der darüber befindet, dass einer mit 50 zu alt für seinen Job ist? Solche Angst. Sie lassen sich ausbeuten und würden es doch nie so nennen. Ich arbeite gerne, würden sie sagen, was auch sonst. Es können ja nicht alle selbständig sein, Künstler oder Penner, einer muss ja arbeiten. Für wen eigentlich? Für Vorstandsvorsitzende, für Manager mit Millionensalären. Ein paar Milliarden Bonus für die Mitarbeiter einer Bank, die ein paar Milliarden Minus erwirtschaftet hat.

Früher nannte man das Klassenkampf. Die da oben die da unten. Heute nennt man es einfach Angestelltenverhältnis, und keiner wundert sich. Den ganzen Tag verkaufen, eine Stunde Mittagspause, aber nur nicht überziehen, nicht aus der Masse ragen, nicht auffallen, sich ducken. Nach Dienstschluss in eine Bar. Den Stress wegsaufen. Auf die Idee, zu demonstrieren, kommt keiner. Wir haben ja Freizeit. Am Wochenende. Da sind wir zu müde. Oder machen Sport, um unsere Arbeitskraft zu erhalten. Oder grillen Würste. Und sind danach müde. Und einmal im Jahr gibt es Urlaub. Hurra.

Dinge, die einem Menschen fremd sind

Menschen mit hundert verbrannten Gliedmaßen, mit grölenden Stimmen. Sie haben große Strohhüte auf, kurze bunte Hosen an, auch die Männer. Badelatschen an den Füßen, rote Nasen, riechen nach Sonnencreme, schwitzen und wirken deplatziert. Schon im Taxi nesteln sie verlegen an ihren Strohhüten, ziehen die Shorts über die Knie, huschen schnell in ihre Wohnungen, laufen hin und her in ihren Wohnboxen, vermissen den Himmel, ist nur die Schrankwand da. Und werden traurig.

Elf Monate liegen vor ihnen. Sie verkleiden sich, zwängen sich in Kostüme, pudern die Nasen, sprechen leise und höflich, all die Menschen machen elf Monate etwas, wozu sie keine Lust haben, als ob sie eine Wette abgeschlossen hätten: Wir tun, als wären wir jemand anderes, wir sind korrekt und fleißig und gehen arbeiten.

Tag für Tag etwas, das uns garantiert nicht interessiert, und wer zuerst aussteigt, der hat verloren. Nun kommt der Herbst und der Winter und die Gesichter der Menschen werden wieder blass und trüb. Sie laufen, wie aufgezogen, machen Dinge, die einem Menschen fremd sind und halten nur durch, weil sie wissen: Nächstes Jahr kommt wieder ein Sommer. Und dann werden wir leben. Nicht der Urlaub ist der Ausnahmezustand. Der Rest des Jahres ist es.