Psychisch gestresster in der City – Seite 1

Stadtluft macht frei – aber auch überdurchschnittlich oft krank. Mehrere Studien haben gezeigt, dass etwa Depressionen oder Angststörungen bei Städtern häufiger auftreten als bei Menschen, die auf dem Land leben. Warum das so ist, konnten Wissenschaftler bisher nicht erklären. Einen wichtigen Hinweis präsentieren jetzt Forscher vom Mannheimer Zentralinstitut für Seelische Gesundheit . Sie fanden heraus, dass bei Städtern zwei Hirnregionen, die für die Verarbeitung von Stress und Emotionen zuständig sind, verändert sind. Das berichten Psychiater und Psychologen um Florian Lederbogen im Fachblatt Nature .

Für die Studie unterzogen sich 32 freiwillige gesunde Testpersonen dem "Mist"-Test (Montréal Imaging Stress Test). Mithilfe eines funktionellen Magnetresonanztomografen (fMRT) verfolgten die Wissenschaftler die Hirnaktivität ihrer Probanden, während diese schwere Rechenaufgaben unter Zeitdruck lösten. Um den Stress für die Versuchsteilnehmer zu erhöhen, bekamen sie über Kopfhörer auch noch kritische Bemerkungen des Versuchsleiters zu hören. Das ließ verständlicherweise nicht nur ihren Blutdruck und den Gehalt des Stresshormons Cortisol steigen, sondern kurbelte auch die Aktivität in Hirnarealen an, die für die Verarbeitung von Emotionen zuständig sind.

Allerdings nicht bei allen in gleichem Ausmaß. Das Ergebnis, das sich auch in anschließenden Kontroll-Untersuchungen bestätigte: Bei denjenigen Versuchspersonen, die aktuell in Städten mit mehr als 100.000 Einwohnern leben, war der Mandelkern ( Amygdala ) deutlich aktiver. Damit wird eine Hirnstruktur bezeichnet, in der unter anderem negative Affekte verarbeitet werden. Vom Großstädter über den Kleinstädter bis zum Dorfbewohner nahm dessen Aktivität ab.

Die Forscher interessierten sich auch dafür, wo die Versuchsteilnehmer ihre Kindheit und frühe Jugend verbracht hatten – und wie sich das in den Köpfen niederschlägt. Dafür multiplizierten sie die Größe der Heimatorte mit der Anzahl der dort verbrachten Jahre und erhielten so eine individuelle Kennzahl. Je höher sie war, desto "städtischer" waren die Versuchspersonen geprägt. Und desto aktiver war bei ihnen ein anderes Hirnareal namens perigenuales anteriores Cingulum (pACC). Von hier aus wird die Aktivität des Mandelkerns entscheidend gesteuert. Das Zusammenspiel beider Hirnregionen war zudem bei den ehemaligen Stadtkindern schwächer. Hier schließt sich der Kreis. Älteren Untersuchungen zufolge kann das mangelhafte Zusammenspiel der beiden Hirnareale ein Hinweis auf erhöhte psychische Labilität sein.

Die Wissenschaftler schließen aus ihren Ergebnissen, dass sowohl das Aufwachsen als auch das Leben in Großstädten die Verarbeitung von sozialem Stress im Gehirn erkennbar beeinflussen. Bei anderen, mit weniger Stress verbundenen Aufgaben zeigten sich zwischen den Gruppen keine Unterschiede.

Das Ergebnis ist schon deshalb wichtig, weil die Zukunft der Menschheit wohl in den Städten liegt: Bereits heute lebt die Hälfte der Weltbevölkerung in urbanen Regionen, im Jahr 2050 werden es wohl um die 70 Prozent sein. "Je weiter der Mensch sich von seinem natürlichen Biotop entfernt, desto höher könnte der Preis sein", kommentiert der Biopsychologe Peter Walschburger von der Freien Universität Berlin . Einen echten Beweis dafür, dass die Größe des Herkunftsortes die Stressverarbeitung direkt beeinflusst, sei mit der jetzt vorgestellten Studie noch nicht erbracht, sagt der FU-Forscher. Dafür seien zu wenig Probanden herangezogen worden, die zudem ausschließlich aus Deutschland kommen – was einen internationalen Vergleich erschwert.

Die Tests untermauern Erkenntnisse aus bevölkerungsweiten Studien

Der nächste Schritt müssten Langzeitstudien sein, die wesentlich mehr Menschen und unterschiedliche Lebensverhältnisse einbeziehen. Kaum vorstellbar, dass es keinen Unterschied macht, ob ein Mensch im Zentrum von Mexico-City oder in einer Ökosiedlung am Rand von Freiburg aufwächst, ob er liebend gern oder wider Willen in Berlin oder New York lebt und arbeitet. "Solche Faktoren müssten dringend einbezogen werden", fordert Walschburger.

Spannend ist allerdings, dass die neuen Experimente mit Stresstests und fMRT Erkenntnisse untermauern, die aus bevölkerungsweiten Studien stammen. So ist bekannt, dass einige psychische Erkrankungen in Städten häufiger diagnostiziert werden als auf dem Land. Angststörungen sind dort etwa um ein Fünftel häufiger, und das Risiko, an einer Schizophrenie zu erkranken, ist für Menschen, die in Städten aufwachsen, fast doppelt so hoch. Einfach zu behaupten, das Leben auf dem Land sei gesünder, weil natürlicher, ist aus Walschburgers Sicht zu platt. "Man darf nicht unterschätzen, wie groß das Adaptionsvermögen des Menschen ist", gibt er zu bedenken.

Immer wieder berichten Studien auch von den gesundheitlichen Vorteilen des Stadtlebens. So ist zum Beispiel in vielen Ländern die Suizidrate in Städten kleiner als auf dem Land, bemerken Daniel Kennedy und Ralph Adolphs vom kalifornischen Institut für Technologie in Pasadena in einem Kommentar in Nature . "Das könnte daran liegen, dass Städte ein reicheres, anregenderes Umfeld, größere soziale Netzwerke und leichteren Zugang zu medizinischer Versorgung bieten."

Erschienen im Tagesspiegel