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Kultur Kommentar

Nietzsche mit Fingerfarben

Herausgeberin Literarische Welt

Ein amerikanischer Freund fragte neulich, was es denn bitte mit dem ersten Mai auf sich habe: Sei das ein Volksfest, immerhin gäbe es Bratwurst, Geklampfe und Männer mit roterhitzen Bierwangen. Als man gerade begann, sich alteuropäisch entrüstet zu räuspern, um dann angemessen ernst den Tag der Arbeit zu erklären, gesetzliche Feiertage, Gewerkschaften und Tariflöhne, da fiel einem Nietzsche ein, der mit seiner Dreifachkombination aus buschigem Schnurrbart, lyrischem Schreibstil und renitenter Moralgenealogie immer besonders eindrucksvoll wirkt. "Die Ewige Wiederkunft des Gleichen" sei in Deutschland Programm, sagte man also.

Morgen wird es Demonstrationen geben, wie jedes Jahr. Es wird zu Schlägereien kommen, eingeschmissene Fensterscheiben und ausgebrannte Mülleimer werden zurückbleiben; eine Zerstörung, die so vorhersehbar ist, wie das Reden über sie. Wir rüsten uns gegen Krawalle, gegen Gewalt und die Randale von Chaoten, ist auf der einen Seite zu hören; wir wappnen uns im Kampf mit Bullen, heißt es auf der anderen Seite. Friedlich aufgelockert wird das Schlachtfeld der Begriffe allenfalls, wenn jemand von "Deeskalationsstrategien" und "Gesprächsangeboten" redet, als gelte es, Archaisches mit Fingerfarbe zu bemalen.

Jede Zeit braucht ihre Wörter. Wieso gibt es keine anderen an diesem ersten Mai, dem ersten nach dem langen Frühling der deutschen Protestlust? Irgendjemand hat Skurrilitäten wie "Wutbürger", "Empörungspotential" und im Übrigen auch "Langschlitztoaster" erfinden können; für jede Holzfaser des inneren Jägerzauns existiert ein nuancierter Ausdruck. Die Sprachduelle des Wochenendes aber erinnern nur an eine längst verschwundene Welt: Die achtziger Jahre, wie sie in den Comics von Gerhard Seyfried gezeichnet wurden, in denen es "Bullen" und "Chaoten" gab wie in den fünfziger Jahren "Halbstarke", die auf Motorrädern die Vorstädte verunsicherten, bis sie von "Langhaarigen" mit Blumen und Cordschlaghosen abgelöst wurden. Die Frage, die in letzter Zeit so bedeutungsschwer gewälzt wurde, die Frage, ob sich unsere Gesellschaft repolitisiere, beantwortet sich selbst: Der erste Mai ist, wie immer, ein Volksfest des Vorhersehbaren.

Er selbst werde am ersten Mai das tun, was man an Sonntagen eben so täte, sagte der amerikanische Freund, shoppen. Er klang zufrieden.

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