Inhalt der Printausgabe

Über das Spektakuläre an »Spiegel online«

Von Stefan Gärtner

Mittweida ist eine Große Kreisstadt in Mittelsachsen mit 16000 Einwohnern, einem Marktbrunnen samt Jugendstilengel sowie einer Fachhochschule mit einer Fakultät für Medien, die 2007 einen »Medientreffpunkt Mitteldeutschland« verabredete. Dort angekommen, durften »einige Verantwortliche von Online-Medien«, namentlich die Chefs von »Spiegel online«, Sueddeutsche.de, dem Online-Angebot der Leipziger Volkszeitung und Tagesschau.de, eine Podiumsdiskussion mit dem leidlich literaten Titel »Online – wer wird Leitmedium?« bestreiten, aber wer einen Kampf ums Hoheitsrecht erwartet hatte, wurde enttäuscht: »Die Frage nach ihren persönlichen Leitmedien und denen ihrer Redaktionen beantworteten die Herren, wenn auch mit Argwohn, fast einhellig. ›Spiegel online‹ ist bei den meisten unserer Redakteure noch Startseite, gab [der Chef von Sueddeutsche.de] Jakobs zu … ›Für viele Leute ist diese Website das Maß aller Dinge‹, so der Redaktionsleiter von Tagesschau.de«, so die Website der Fakultät.

Und es ist ja auch klar, warum: »Chaotische Verwaltung: Griechenland überweist toten Rentnern Geld«, »Nato-Einsatz in Afghanistan: Die Stimmung kippt«, »Merkel bei Obama: Außen Ehre, innen Leere«, »Exklusiver Kochtip: Spiegelei für reiche Söhne und Töchter« lauteten einige der streng dem Sensations-, Exklusivitäts- und Nannenschen Wundertütenprinzip verpflichteten Schlagzeilen am 6. Juni 2011, und so altmodisch kann keiner sein, derlei hybride Infosträuße in unseren kommunikationsbewegten Zeiten nicht als vorbildlich zu erkennen.

Denn Netzjournalismus, sofern er aus wirtschaftlichen Gründen und mit Blick auf Breitestwirkung betrieben wird, ist nicht irgendein Abfallprodukt für die Generation Smartphone, für das ihn der soignierte Qualitätszeitungsleser immer noch halten mag: Er ist, ganz im Gegenteil, Destillat, die Essenz von Journalismus als Geschäft, dessen Prinzip Hermann L. Gremliza vor dreißig Jahren so beschrieben hat: »Der Wettbewerb um die Gunst der Konsumenten zwingt die privatwirtschaftlichen Medien, alles zu unterlassen, was die Instinkte und Vorurteile der Leser, Hörer und Seher stören könnte. Ja, um gar kein Risiko zu laufen, müssen sie immer noch ein Stück tiefer ansetzen. Axel Springer sieht das schon ganz richtig: Wer in diesem Busineß Erfolg haben will, darf nicht belehren, aufklären, fragen – er muß unterhalten, bestätigen, verdummen.« Heute kann Springers Bild mit der Virulenz von »Spon« schon nicht mehr recht mithalten: Nicht nur sind die Zeiten, als Bild über die Grenzen ihrer Kernleserschaft hinaus als cool und zeitgeistig galt, vorbei; auch war Bild, außer für ihre Provinzkopien an Rhein und Elbe, nie Vorbild, und sollte sie je Pop gewesen sein, dann als Frivolität und Trash. Das Neue, im Grunde Perfidere am Netz-Spiegel ist seine Rolle als Nachrichtensender, die als Draperie fürs kundenbindende Remmidemmi dient (»Logbuch al-Qaida: Showdown im Apfelgarten«, 6.6.) und Imageprobleme kleinhält. Anders als Springers Kettenhund nicht im Schmuddeleck angepflockt, hat »Spon« mit demselben Crossover aus Sex, Crime und Politik (»Türkischer Wahlkampf: Sexvideos und Größenwahn«) paradigmatisch werden können: Nichts hat der allgemeinen Sensationitis und Boulevardisierung im Preßbereich so den Boden bereitet wie die Kopplung des Nimbus vom ewigen Nachrichtenmagazin ans sexy Atemlose des Netzmediums.

Und so gilt der erste Blick des Qualitätszeitungsredakteurs am Morgen der Spiegel-Seite, und da ein Qualitätszeitungsredakteur von dem lebt, was man ihm vorbetet, dauert es nicht lang, und alles klingt, wie es klingen muß, wenn sich eine Schule erst einmal etabliert hat. »Die Parole ersetzt das Komplexe, das Schlagwort die Analyse« (Gunnar Schubert) – die Konsequenz, mit der »Spon« aus den immergleichen Krawallvokabeln (drastisch/dramatisch/extrem/bizarr/Debakel/Desaster/Chaos/Kollaps) montiert wird, hat geradezu konstruktivistischen Charme (»Die Warnungen klangen dramatisch – doch das Benzin-Chaos zu Ostern blieb aus«), und auch hier liegt das Verhängnis in der Reichweite: Denn die Profis bei der Konkurrenz, die, wenn sie »Zicken-Zoff« schreiben, das noch als augenzwinkernden Rekurs aufs Boulevardgeblödel verstanden wissen wollen, sind i.a.R. dann ja doch zu doof, die subtileren Signale schlechten, weil manipulativen Journalismus zu erkennen und vielleicht ausnahmsweise mal nicht zu kopieren. Also wird nach Kräften nachgeplappert und mitgehämmert, und es ist, je nach Perspektive, entweder spaßig oder niederschmetternd, wie in bspw. der Süddeutschen Zeitung, seit »Spiegel online« auf Sendung ist und den Takt vorgibt, alles zum dramatisch Drastischen drängt, ob es nun um Ehec-Gurken, Vergewaltigungsprozesse oder Internetverkehr geht: Da hat Sony seine Sicherheitssysteme »drastisch verbessert« (mit dramatisch großen Vorhängeschlössern womöglich), Zuschüsse für ungewollt kinderlose Paare sind »drastisch zusammengestrichen worden« (statt das Zusammenstreichen zur Abwechslung mal undrastisch, ja sensibel anzugehen), und wenn die Geburtenziffern sinken und statt zehn Blagen nur mehr neun geboren werden, ist das, je nun, ein »drastischer Geburteneinbruch«.

»Mehr geht leider nicht« (H. Grönemeyer, 1986).

Neben der semantisch-syntaktischen Verknappung (»Westen hadert mit Ägypten-Umsturz«) ist die Personalisierung das zweite bewährte Boulevardinstrument, das bei »Spon« selbst dann für gute Laune sorgt, wenn die infektiöse Kacke am Dampfen ist: »Bahrs Ehec-Krisenmanagement: Verseucht, verheddert, vermurkst« – nicht nur »die alte journalistische Untugend des Überschriften-Stabreims« (Stefan Niggemeier), die »Spon«, in ironischer Dialektik, als Markenzeichen versteht (»König Klose kapituliert«), zieht aller Glaubwürdigkeit sofort den Stecker, auch die Verengung eines komplexen Sachverhalts zu einer Skandalgeschichte mit einer prominenten Hauptperson ist bestes Unterhaltungshandwerk. »›Der Feind im Essen‹, titelt der Spiegel, die Nation fragt sich: Was können wir noch essen? Natürlich hat Bahr darauf keine Antwort, das wäre auch zuviel verlangt von ihm. Aber das Gefühl drängt sich schon auf, daß der FDP-Politiker – Amtszeit knapp ein Monat – in der Ehec-Krise ein bißchen überfordert ist« – da müssen sich die Redakteure schon gar keine Mühe mehr geben, die Fadenscheinigkeit des Anwurfs zu verhehlen: Es reicht, wenn sich ein Gefühl aufdrängt, daß der Herr Minister ein bißchen überfordert ist, und interessierte Kreise, die diesen Verdacht gern bestätigen (»›Das Krisenmanagement von Gesundheitsminister Bahr ist wenig überzeugend‹, findet Thomas Oppermann, Fraktionsgeschäftsführer der SPD-Bundestagsfraktion«), sind allzeit schnell gefunden. Im Rest des Artikels, der, nicht mal zu Unrecht, ein Dickicht von Zuständigkeiten beklagt, kommt der Minister dann kaum noch vor. Egal, seinen Auftritt als Türöffner und Watschenaugust hat er ja gehabt.

Einen Tag drauf »rechnet Europa mit deutschem Krisenmanagement ab«: »EU-Politiker beschweren sich massiv über den Umgang der deutschen Behörden mit Ehec, vor allem das Hickhack zwischen Bund und Ländern empört die Volksvertreter.« Und tatsächlich, es war ein Strafgericht: »Was in Deutschland fehlt, ist aus Sicht vieler EU-Parlamentarier eine klare Kompetenzaufteilung zwischen Bund und Ländern. In den USA gebe es eine zentrale Seuchenbekämpfungsbehörde in Atlanta, sagte die Fraktionschefin der Grünen im EU-Parlament, Rebecca Harms … Die SPD-Abgeordnete Dagmar Roth-Behrendt prangerte im Europaparlament ein ›Kommunikationschaos‹ in Deutschland an. Ihr Fraktionskollege Jo Leinen fand es ›inakzeptabel, daß man drei Wochen nach Ausbruch der Krise immer noch nicht weiß, woher der Erreger kommt‹.« Dies also die massive Abrechnung eines empörten Europas: Namenlose Parlamentarier und eine halbe Handvoll deutsche Hinterbänkler, die Opposition markieren – besser weiß auch Bild nicht, wie man aus einer dürren Agenturmeldung einen Knaller macht.

Aber zum postmodernen Leitmedium gehört eben jene Bereitschaft zum Spektakel, das Aufklärung ans tautologische, im engen Sinne bedeutungslose Gelärme verrät; der Verdacht liegt nahe, daß dieses simulatorische Sperrfeuer der eigentliche Zweck der sog. Informationsgesellschaft als Endlosquatschschleife ist – kein Zufall, daß die adjuvanten Will, Maischberger und Plasberg von »Spon« stets mit ausführlichen Fernsehkritiken bedacht werden. Der alte Print-Spiegel glaubte immerhin noch daran, »Sturmgeschütz der Demokratie« zu sein; unmöglich zu sagen, was sein virtueller Ableger als »postdemokratische« (Enzensberger) Hirnwaschmaschine noch wollen können sollte, als die gängigsten Axiome der Kulturkritik von Kraus über Adorno/Horkheimer bis Guy Debord stündlich frisch zu illustrieren: »Die durch das Spektakel prinzipiell geforderte Haltung ist diese passive Hinnahme, die es schon durch seine Art, unwiderlegbar zu erscheinen, durch sein Monopol des Scheins faktisch erwirkt hat … Im Spektakel … ist das Endziel nichts, die Entwicklung alles. Das Spektakel will es zu nichts anderem bringen als zu sich selbst«, und es unterliegt keinem Zweifel, daß kein Medium in Deutschland in diesem Sinne spektakulärer ist als »Spiegel online«. Das muß man anerkennen.

ausgewähltes Heft

Aktuelle Cartoons

Heftrubriken

Briefe an die Leser

 Gude, Fregatte »Hessen«!

Du verteidigst Deutschlands Demokratie zur Zeit im Roten Meer, indem Du Handelsrouten vor der Huthi-Miliz schützt. Und hast schon ganz heldenhaft zwei Huthi-Drohnen besiegt.

Allerdings hast Du auch aus Versehen auf eine US-Drohne geschossen, und nur einem technischen Fehler ist es zu verdanken, dass Du nicht getroffen hast. Vielleicht ein guter Grund für die USA, doch nicht auf der Erfüllung des Zwei-Prozent-Ziels zu beharren!

Doppelwumms von Titanic

 Ziemlich beunruhigt, Benjamin Jendro,

lässt uns Ihr vielzitiertes Statement zur Verhaftung des ehemaligen RAF-Mitglieds Daniela Klette zurück. Zu dem beeindruckenden Ermittlungserfolg erklärten Sie als Sprecher der Gewerkschaft der Polizei: »Dass sich die Gesuchte in Kreuzberg aufhielt, ist ein weiterer Beleg dafür, dass Berlin nach wie vor eine Hochburg für eine gut vernetzte, bundesweit und global agierende linksextreme Szene ist.«

Auch wir, Jendro, erkennen die Zeichen der Zeit. Spätestens seit die linken Schreihälse zu Hunderttausenden auf die Straße gehen, ist klar: Die bolschewistische Weltrevolution steht im Grunde kurz bevor. Umso wichtiger also, dass Ihre Kolleg/innen dagegenhalten und sich ihrerseits fleißig in Chatgruppen mit Gleichgesinnten vernetzen.

Bei diesem Gedanken schon zuversichtlicher: Titanic

 Also wirklich, »Spiegel«!

Bei kleinen Rechtschreibfehlern drücken wir ja ein Auge zu, aber wenn Du schreibst: »Der selbst ernannte Anarchokapitalist Javier Milei übt eine seltsame Faszination auf deutsche Liberale aus. Dabei macht der Rechtspopulist keinen Hehl daraus, dass er sich mit der Demokratie nur arrangiert«, obwohl es korrekt heißen müsste: »Weil der Rechtspopulist keinen Hehl daraus macht, dass er sich mit der Demokratie nur arrangiert«, müssen wir es doch anmerken.

Fasziniert von so viel Naivität gegenüber deutschen Liberalen zeigt sich

Deine Titanic

 Und übrigens, Weltgeist …

Adam Driver in der Rolle des Enzo Ferrari – das ist mal wieder großes Kino!

Grazie mille von Titanic

 Mmmmh, Thomas de Maizière,

Mmmmh, Thomas de Maizière,

über den Beschluss der CDU vom Dezember 2018, nicht mit der Linkspartei oder der AfD zusammenzuarbeiten, an dem Sie selbst mitgewirkt hatten, sagten Sie bei Caren Miosga: »Mit einem Abgrenzungsbeschluss gegen zwei Parteien ist keine Gleichsetzung verbunden! Wenn ich Eisbein nicht mag und Kohlroulade nicht mag, dann sind doch nicht Eisbein und Kohlroulade dasselbe!«

Danke für diese Veranschaulichung, de Maizière, ohne die wir die vorausgegangene Aussage sicher nicht verstanden hätten! Aber wenn Sie schon Parteien mit Essen vergleichen, welches der beiden deutschen Traditionsgerichte ist dann die AfD und welches die Linke? Sollte Letztere nicht eher – zumindest in den urbanen Zentren – ein Sellerieschnitzel oder eine »Beyond Kohlroulade«-Kohlroulade sein? Und wenn das die Alternative zu einem deftigen Eisbein ist – was speist man bei Ihnen in der vermeintlichen Mitte dann wohl lieber?

Guten Appo!

Wünscht Titanic

Vom Fachmann für Kenner

 Kapitaler Kalauer

Da man mit billigen Wortspielen ja nicht geizen soll, möchte ich hier an ein großes deutsches Geldinstitut erinnern, das exakt von 1830 bis 1848 existierte: die Vormärzbank.

Andreas Maier

 Einmal und nie wieder

Kugelfisch wurde falsch zubereitet. Das war definitiv meine letzte Bestellung.

Fabian Lichter

 Tiefenpsychologischer Trick

Wenn man bei einem psychologischen Test ein Bild voller Tintenkleckse gezeigt bekommt, und dann die Frage »Was sehen Sie hier?« gestellt wird und man antwortet »einen Rorschachtest«, dann, und nur dann darf man Psychoanalytiker werden.

Jürgen Miedl

 Wenn beim Delegieren

schon wieder was schiefgeht, bin ich mit meinen Lakaien am Ende.

Fabio Kühnemuth

 Die Touri-Falle

Beim Schlendern durchs Kölner Zentrum entdeckte ich neulich an einem Drehständer den offenbar letzten Schrei in rheinischen Souvenirläden: schwarzweiße Frühstücks-Platzmatten mit laminierten Fotos der nach zahllosen Luftangriffen in Schutt und Asche liegenden Domstadt. Auch mein Hirn wurde augenblicklich mit Fragen bombardiert. Wer ist bitte schön so morbid, dass er sich vom Anblick in den Fluss kollabierter Brücken, qualmender Kirchenruinen und pulverisierter Wohnviertel einen morgendlichen Frischekick erhofft? Wer will 365 Mal im Jahr bei Caffè Latte und Croissants an die Schrecken des Zweiten Weltkriegs erinnert werden und nimmt die abwischbaren Zeitzeugen dafür sogar noch mit in den Urlaub? Um die Bahn nicht zu verpassen, sah ich mich genötigt, die Grübelei zu verschieben, und ließ mir kurzerhand alle zehn Motive zum Vorteilspreis von nur 300 Euro einpacken. Seitdem starre ich jeden Tag wie gebannt auf das dem Erdboden gleichgemachte Köln, während ich mein Müsli in mich hineinschaufle und dabei das unheimliche Gefühl nicht loswerde, ich würde krachend auf Trümmern herumkauen. Das Rätsel um die Zielgruppe bleibt indes weiter ungelöst. Auf die Frage »Welcher dämliche Idiot kauft sich so eine Scheiße?« habe ich nämlich immer noch keine Antwort gefunden.

Patric Hemgesberg

Vermischtes

Erweitern

Das schreiben die anderen

  • 27.03.:

    Bernd Eilert denkt in der FAZ über Satire gestern und heute nach.

Titanic unterwegs
31.03.2024 Göttingen, Rathaus Greser & Lenz: »Evolution? Karikaturen …«
04.04.2024 Bremen, Buchladen Ostertor Miriam Wurster
06.04.2024 Lübeck, Kammerspiele Max Goldt
08.04.2024 Oldenburg, Theater Laboratorium Bernd Eilert mit Klaus Modick