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Literatur Odenwaldschule

Das Paradies der Reformpädagogik wurde zur Hölle

Freier Autor
Tilman Jens beschreibt in "Freiwild" den Sexskandal an der Odenwaldschule – und wie aus Aufklärung Hysterie wird.

Als Gerold Becker stirbt, hinterlässt der ehemalige Leiter der Odenwaldschule eine pädagogische Privatbibliothek mit 5000 Bänden. Als Spende geht sie an die Fachhochschule Ludwigsburg. Dort bricht ein Sturm der Entrüstung los.

Schließlich war Becker Päderast, des vielfachen Missbrauchs seiner Zöglinge überführt. Die Spende wird zurückgeschickt – als wären die Bücher dadurch kontaminiert, dass Becker in ihnen geblättert hat; als sei der Kindesmissbrauch irgendwie ansteckend; als müsse man sich am Erbe eines Mannes rächen, den man bis kurz vor seinem Tod verehrt und gefeiert hat.

Jens: "Der Fall ist weit komplizierter"

Dieses Beispiel eines zumindest streitbaren Reinigungsrituals findet sich in einem bemerkenswerten Buch, das jetzt – ein knappes Jahr nach Beckers Tod – erschienen ist. "Freiwild" heißt das "Lehrstück von Opfern und Tätern", das Tilman Jens 36 Jahre nach seinem Weggang von der Odenwaldschule in Oberhambach (OSO) vorgelegt hat; das Ergebnis von etwa 100 Gesprächen mit Schulkameraden, Opfern, Tätern, Beschuldigten und Experten.

"Ursprünglich wollte ich einen Text ausschließlich über den Missbrauch des Missbrauchs, über die falschen Verdächtigungen schreiben", bekennt Jens, "über die Treibjagd, denen sich nun manch altgedienter Mitarbeiter ausgesetzt sieht. Doch der Fall liegt, bei genauerem Hinschauen, eben weit komplizierter."

Wer differenziert, kommt in den Verdacht der Apologie; wer verstehen will, wird der Verharmlosung geziehen; muss sich ja auch selbst fragen, inwieweit er nur einem eindeutigen Urteil ausweichen will.

Gerold Becker, der "große Ummo"

Jens stellt seine Befangenheit zu Beginn klar: "Im Paradies" ist das Kapitel überschrieben, in dem das Kind aus bürgerlichem Hause beschreibt, wie es 1972 zur OSO kommt, gescheitert am Gymnasium in Tübingen, vielleicht auch, obwohl er es nicht schreibt, am übermächtigen Vater, dem Romancier, Kritiker und Rhetoriker Walter Jens.

Tilman ist ein Reparaturfall aus dem bürgerlichen Leistungsbetrieb, wie die meisten Internatsinsassen, von Klaus Mann bis Andreas von Weizsäcker, mit denen die Reformpädagogen ihre Utopie des selbstbestimmten Lebens zu verwirklichen versuchten.

Mit Begeisterung erzählt er vom Aufnahmegespräch mit dem "heiter-entspannten" Gerold Becker, von der Freiheit an der OSO, vom sozialen Engagement und vom spannenden Unterricht des "großen Ummo", wie die Schüler in spöttischer Ehrfurcht den Mann nannten, der von sich selbst sagte: "Die Odenwaldschule, das bin ich" – und der die OSO zerstört und den Ruf der Reformpädagogik ruiniert hat. Von den zerstörten Leben so vieler Schüler und Schülerinnen ganz zu schweigen.

Erniedrigende Sexspiele mit Minderjährigen

Denn während sich Tilman Jens und Tausende andere im Paradies wähnten, saßen andere "in der Hölle". So ist das zweite Kapitel überschrieben. "Wisst ihr, wie es sich anfühlt, wenn man nachts aufwacht? Aufwacht, weil Gerold einem den Schwanz lutscht?", fragt eines der Opfer.

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Da ist von Verführung und Vergewaltigung minderjähriger Jungen und Mädchen die Rede; von erniedrigenden Sexspielen und vom Mobben derer, die nicht mitmachen wollten; davon, wie Schüler durch Alkohol und Geschenke gefügig gemacht und durch Drohungen zum Schweigen verpflichtet wurden.

Es geht nicht nur um Becker, sondern auch um den Musiklehrer Wolfgang Held, der junge Schüler in seine "Familie" holte, wo er sie in einen an Stefan George gemahnenden Kult um Opernmusik, das antike Griechenland und Knabenliebe initiierte.

Kinder werden Gleichgesinnten ausgeliefert

Die schönsten unter seinen Schützlingen brachte der Ästhet zu Treffen mit Gleichgesinnten in der Heidelberger Villa seines Gönners, des Komponisten Wolfgang Fortner. "Auch die Gäste hatten dann ihre Freude an uns", sagt ein ehemaliger Schüler.

Da ist auch von Jürgen K. die Rede. Er ist das Gegenteil von Held, ein ewiger Pfadfinder, dem Volkslied und dem Trampen zugetan – und nicht nur Jungen, sondern auch Mädchen.

Die 13-jährige Helga erwacht, als K. sie unter ihrem Schlüpfer befingert. "Das war meine erste sexuelle Erfahrung", sagt die heute 48-Jährige und muss bei der Erinnerung weinen. "Er hat mir etwas genommen, was nie mehr zu ersetzen ist." Betrunken konnte K. auch gröber zupacken.

Schüler verspüren Wunsch nach Rache

Kein Wunder also, dass viele ehemalige OSO-Schüler den Wunsch nach Rache verspüren , dem Peiniger von einst einen "Bleistift ins Auge rammen" wollen.

Eher verwunderlich ist, dass der massenhafte Missbrauch – es sind weit über 100 Fälle bekannt – selbst nach den Enthüllungen durch die "Frankfurter Rundschau" 1999 weder an der Schule noch in Kreisen der Reformpädagogik oder gar in der breiteren Öffentlichkeit größere Wellen schlug.

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Auch der Journalist Tilman Jens schwieg. "Da will mir ein Schmock auf der Suche nach einer knalligen Story meine goldene Schülerzeit vergällen", so resümiert er seine damaligen Empfindungen. "Wenn ich überhaupt Mitleid empfand, dann mit dem armen Gerold. Was sollen die alten Kamellen? Und so, ging es, fürchte ich, vielen."

Nach Wegsehen folgt Überkompensation

Das jahrzehntelange Wegsehen und Nichtwissenwollen wird umso heftiger überkompensiert, als – kurz vor der Hundertjahrfeier im Frühjahr 2010 und angeregt durch die Offenbarungen über Missbrauchsfälle in katholischen Einrichtungen – das ganze Ausmaß des Skandals ruchbar wird.

Nicht, dass Becker und Co. die geringste Nachsicht verdient hätten, Jens schildert aber eine "fieberhafte Suche nach Verdächtigen", deren Namen sofort publik gemacht werden, ohne dass sie angehört werden.

Existenzen werden durch diesen Missbrauch des Missbrauchs so sicher ruiniert wie durch den Missbrauch selbst. An der OSO, wo einst eine befreite Sexualität herrschen sollte, soll künftig, so der Vorsitzende des Trägervereins Michael Frenzel, jeder Lehrer "verheiratet oder mindestens liiert" sein.

Gutachten über homosexuelle Mitarbeiter

Bei homosexuell veranlagten Mitarbeitern soll ein Gutachten eingeholt werden, ob ein "Hang zur Pädophilie" vorliege. Den Kolleginnen will die Schulleiterin "aufreizende" Kleidung verbieten.

In der Öffentlichkeit verbindet sich das linke mit dem rechten Spießertum, um mit der OSO gleich die bürgerliche Utopie der Reformpädagogik zu entsorgen.

"Eigentlich müssten in ganz Deutschland die Bücherregale umfallen, in denen die Bände Hartmut von Hentigs stehen", fordert "taz"-Journalist Christian Füller bei der Präsentation seines Buchs über den Skandal an der OSO, die er einst schwärmerisch als vorbildliche Schule hinstellte. Schon wieder müssen die Bücher herhalten für die Rache eines Enttäuschten.

Jens' Buch – Beginn einer ernsthaften Debatte?

Gewiss, von Hentig ist ein Problem. Der wichtigste Theoretiker und Praktiker der bundesdeutschen Schulreform war Lebenspartner Gerold Beckers. Fast undenkbar, dass er vom Treiben seines Freunds nicht wusste.

Dass er auch nach den Enthüllungen nur von "freundlichen Berührungen" Beckers spricht, findet Jens zu Recht "grauenhaft". Dass er an die "Zeit" schrieb: "Ein Letztes: Mein Freund bleibt mein Freund", verrät für Jens aber "Größe und Mut".

Darf man so etwas schreiben? Darf man differenzieren und gar zu verstehen versuchen? "Wären die Täter nur eindimensionale Schurken gewesen, dann wäre die Aufarbeitung ihrer Taten nicht so schmerzhaft", schreibt Jens und fügt hinzu, dass die OSO "aller durch nichts zu beschönigenden Übergriffe zum Trotz für die breite Mehrheit ihrer Absolventen mehr Himmel als Hölle war".

Da liegt das Problem. Denn die von der Reformpädagogik geforderte "Nähe zum Kind" ermöglichte Becker und Co. – und nicht nur ihnen –, vielen Kindern allzu nahe zu treten. Gleichzeitig ist sie Bedingung für die Erfolge der Reformpädagogik bei so vielen Kindern, die in ihren Familien eben diese Nähe vermissen.

Tilman Jens hat ein wichtiges Buch geschrieben, das hoffentlich den Beginn einer ernsthaften Diskussion um das Tabu des pädagogischen Eros markiert.

Tilman Jens: Freiwild. Gütersloher Verlagsanstalt, 192 Seiten, 17,99 Euro.

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