Die Grünen und ihre neue sanfte Bildungspolitik – Seite 1

Der 18. Juli 2010 war ein "ziemlicher Scheißtag" für die Grünen. Das sah nicht nur Hamburgs damalige Bildungssenatorin Christa Goetsch so – doch sie formulierte ihre Gefühle so direkt wie kaum einer. Gerade hatten die Grünen einen Volksentscheid verloren und damit ihren Kampf für eine recht radikale Schulreform, nach der alle Kinder fortan gemeinsam bis zur siebten Klasse unterrichtet werden sollten.

Doch knapp ein Jahr später zeigt sich: Die Grünen hatten vielleicht genau diese schmerzhafte Niederlage gebraucht. "Für viele in der Partei war das ein Einschnitt, wie eine kathartische Reinigung", sagt Sven Lehmann, grüner Bildungspolitiker und Parteichef in NRW. Und Priska Hinz, bundespolitische Sprecherin für Bildungsthemen, ergänzt: "Wir haben in Hamburg gesehen, dass es sinnlos ist, radikal zu sein, wenn man sich damit nicht durchsetzen kann. Der Hamburger Weg ist gescheitert, das müssen wir anerkennen."

Seitdem verfolgen die geläuterten Grünen bundesweit umso zielstrebiger ihren neuen Kurs: Sie sind zur Partei des Bildungspragmatismus und des Schulkonsenses geworden. Behutsame Reformen statt harter Kämpfe, das ist ihr neues Motto.

Ob in NRW, Baden-Württemberg oder auf Bundesebene: Die Grünen haben das Thema Bildung immer weiter ins Zentrum ihrer Politik gerückt – und ihre Positionen dafür gleichzeitig entschärft. Musterbeispiel dafür ist das Konzept der Gemeinschaftsschule, das die Grünen überall dort vorantreiben, wo sie mitreden können.

Die Idee, wie sie momentan am besten in NRW zu beobachten ist, ist einfach: In der Gemeinschaftsschule sollen Kinder länger gemeinsam und ganztags lernen, möglichst spät nach Leistung sortiert werden. Der gemeinsame Unterricht dauert mindestens bis zur siebten Klasse, am besten aber bis zum Ende der zehnten Klasse. Ein Teil der Schüler hat dann seinen Abschluss, der andere Teil wechselt in die gymnasiale Oberstufe – entweder an der Gemeinschaftsschule selbst oder an einem benachbarten Gymnasium.

Die neuen Schulen sollen dadurch entstehen, dass sich einzelne Schulen freiwillig zu ihnen zusammenschließen – seien es Gymnasien, Realschulen oder Hauptschulen. Vor allem für Letztere ist das attraktiv, weil sie so den Makel der Verliererschulen loswerden – und gleichzeitig von den Fördermitteln profitieren, die ihnen die grünen Landespolitiker zuschanzen.

Wichtig und neu dabei ist: Die Gymnasien können parallel weiterexistieren. Als "Ermöglichungspolitik" verkaufen die Grünen das: Wenn Schulträger, also meist Städte oder Kommunen, eine Gemeinschaftsschule haben wollen, dann unterstützt sie das Land dabei, gezwungen wird aber niemand. Politiker wie Priska Hinz oder die NRW-Bildungsministerin Sylvia Löhrmann hoffen, dass sich ihr Modell so quasi von allein durchsetzt, einfach, weil es für viele Kommunen attraktiv ist. 18 Gemeinschaftsschulen gehen in NRW gerade an den Start, rund 50 weitere Kommunen haben beim Ministerium bereits Interesse angemeldet.

Dabei können die Grünen zunehmend auch auf die Unterstützung von CDU-Politikern verweisen. Bei fast allen Parteien hat sich mittlerweile die Erkenntnis durchgesetzt, dass die als Verlierer-Schule abgestempelte Hauptschule in ihrer jetzigen Form nicht mehr zu retten ist. In Niedersachsen fusioniert die CDU sie deshalb mit der Realschule zur sogenannten Oberschule. Die soll zwar ihre Schüler nicht bis zum Abitur führen können, ist aber sonst vom grünen Gemeinschaftsschulkonzept gar nicht so weit entfernt. "Wir nähern uns da alle an", stellt Bildungspolitikerin Priska Hinz fest, "wir sind alle pragmatischer geworden."

 Den Kampf gegen die Lobby des Gymnasiums haben die Grünen aufgegeben

Schulpolitik hatte bei den Grünen nicht immer so eine gewichtige Rolle gespielt. Erst nach den ersten verheerenden Pisa-Tests habe die Partei den Bereich für sich entdeckt, erinnert sich NRW-Parteichef Lehmann: "Vor allem, weil es so viel mit sozialer Gerechtigkeit zu tun hat." Und je wichtiger die Bildungspolitik bei den Grünen wurde, desto weniger radikal wurde sie. Vor Jahren forderten die Grünen noch offensiv die Abschaffung des Gymnasiums, des heiligen Grals des deutschen Schulsystems. Und im Programm zur Bundestagswahl 2009 heißt es: "Wir wollen, dass alle Kinder mindestens bis zur 9. Klasse gemeinsam lernen."

Mit solch offensiven Plänen ist Schluss seit dem Hamburger Scheitern der Grünen Bildungssenatorin Christa Goetsch, die früher selbst Lehrerin war. Goetsch sitzt jetzt als einfache Abgeordnete im Senat, die Schulexpertin kümmert sich heute um die Themen Stadtteilkultur und Kunst – Randthemen, könnte man sagen. Ihre Parteifreunde im Rest des Landes haben ihr Schicksal ganz genau beobachtet und eigene Lehren daraus gezogen.

Lehre Nummer eins: Gegen die Lobby des Gymnasiums kann man nicht gewinnen. "Es gibt nun mal einen starken Block, der das Gymnasium um jeden Preis erhalten will", sagt die grüne Bildungspolitikerin Hinz, "da nützt es doch nichts, wenn wir dagegen anrennen, mit dem Kopf werden wir nicht durch die Wand kommen." Lehre Nummer zwei: Die Schulen wollen endlich mal ihre Ruhe haben, wollen nicht immer neue Zwangsreformen aufgedrückt bekommen. Beide Erkenntnisse sollen nun in den freiwilligen Gemeinschaftsschulen umgesetzt werden.

Die neue, sanfte Schulpolitik ist in der Partei nicht unumstritten: Die Grüne Jugend beispielsweise liebäugelt weiter mit der Abschaffung des Gymnasiums. Und vergangene Woche meldete sich Brigitte Schumann in der Wochenzeitung der Freitag zu Wort . Die ehemalige bildungspolitische Sprecherin der Grünen NRW (bis 2000) warf ihren alten Parteifreunden vor: "Sie drücken sich vor der historischen Aufgabe, das Schulsystem aus seiner ständischen Tradition zu befreien und zu demokratisieren." Schumann fordert gar einen "bildungspolitischen Ausstiegsbeschluss" aus der Dreigliedrigkeit

Unter Bedrängnis gerät die neue grüne Bildungspolitik aktuell auch durch ein Urteil des Münsteraner Oberverwaltungsgerichts: Es verbot der NRW-Regierung, ihr Gemeinschaftsschulprojekt weiterhin als Modellversuch durchzuziehen , nun braucht die Minderheitskoalition ein neues Schulgesetz dafür. Keine leichte Aufgabe. Die CDU hat zwar ihre Unterstützung angeboten, allerdings nur im Gegenzug für eine verfassungsmäßige Bestandsgarantie für Gymnasien. "Wir wollen keinen Bestandsschutz für Gymnasien oder andere Schulformen in der Verfassung", sagt dazu Grünen-Parteichef Lehmann. Vorstellen könne er sich aber eine Abmachung zwischen den Parteien darüber, "keine Schulform in den nächsten zehn Jahren anzutasten, die vor Ort nachgefragt wird". Auch hier also Kompromissbereitschaft.

Allerdings will die CDU an gemeinsamen parteiübergreifenden Schulkonsens-Gesprächen nur teilnehmen, wenn die Linkspartei ausgeladen wird. Hier ist die Stimmung im christdemokratischen Landesverband gerade etwas gereizt. "Wem eine gemeinsame Schulpolitik mit den Kommunisten wichtiger ist als ein gemeinsamer Kurs der demokratischen Parteien, der verwirkt die Chance auf einen schulpolitischen Konsens", schreiben CDU-Landeschef Norbert Röttgen und Fraktionschef Karl-Josef Laumann am Montag in einem gemeinsamen Brief an Parteikollegen.

Insgeheim träumen die Grünen noch immer davon, dass eines Tages alle Kinder gemeinsam unterrichtet werden. "Natürlich wäre eine Schule für alle das Allerbeste", schwärmt Priska Hinz. Aber es gebe "nun mal einfach keine Mehrheit in der Bevölkerung" dafür, das sofort umzusetzen. Es ist ein für die idealistischen Grünen bemerkenswertes Politikverständnis, dass hinter solchen Aussagen sichtbar wird: Sie kämpfen nicht mehr für Minderheiten-Positionen, sondern gehen dahin, wo die Mehrheiten sind. Beim Wähler haben sie damit Erfolg. Von ihrem einstigen Ziel, der einen Schule für alle, bleibt ihnen allerdings nicht viel mehr als die wage Hoffung, dass sie sich in den nächsten Jahrzehnten vielleicht von allein durchsetzt.