Der mühsame Weg zur Fahrradstadt – Seite 1

Ingmar Bolle und Thomas Friede haben sich fahrradtauglich angezogen: schwarze Allwetterjacken, bequeme Hosen, die Bünde mit reflektierenden Schnappbändern zusammengebunden. "I love CPH" steht auf Bolles Umhängetasche, CPH steht für Kopenhagen , ein europäisches Vorbild  bei der Fahrradpolitik. Bolle, Verkehrsreferent der Stadt Frankfurt am Main, und Friede, Verkehrsplaner im neu geschaffenen Radfahrbüro, arbeiten daran, Frankfurt fahrradfreundlicher zu machen. Auf einer Tour durch die Stadt wollen sie mir zeigen, wo es schon gut funktioniert und wo es noch stockt.

Der Umbau zu einer radfreundlichen Stadt ist eine kleinteilige Arbeit. Ein Patentrezept gibt es nicht, denn jede Stadt ist anders gewachsen und bringt unterschiedliche Voraussetzungen mit. Frankfurt wurde als Autostadt gebaut – mit mehrspurigen Straßen, vielen Parkplätzen und schmalen Gehwegen. Die Infrastruktur der 690.000-Einwohner-Stadt ist ganz auf Auto fahrende Berufspendler ausgerichtet. Sie sollen morgens schnell in die Innenstadt, um zu arbeiten, und abends zügig wieder raus aus der City, nach Hause.

An diesem Vormittag haben die Pendler ihr Ziel schon erreicht. Frankfurts Straßen sind leer. Am Mainufer radeln nur vereinzelt Studenten und Rentner, eine Touristengruppe läuft Richtung Eiserner Steg. Am Fluss entlang geht es nach Westen.

Sand in die Ritzen des Kopfsteinpflasters

Ein erstes Problem wird im schicken Neubauviertel Westhafen sichtbar, wo man in Lofts mit eigenem Bootsliegeplatz wohnt. Wir rattern über Kopfsteinpflaster. Nachdem sich hier Unfälle häuften, weil Radfahrer zwischen den Steinen hängen blieben und stürzten, hat die Stadt die Zwischenräume mit Sand aufgefüllt – doch nur auf einem Teil der öffentlich zugänglichen Fläche, der Rest ist in Privatbesitz. Die Stadt kann die Eigentümer nicht zum Auffüllen der Fugen zwingen. "Eine unbefriedigende Situation", findet Friede. Wer schlau ist, fährt hier so viel wie möglich auf den glatteren Ablaufgittern und wird weniger durchgeschüttelt.

Wir lassen die Main-Neckar-Brücke links liegen und fahren Richtung Norden, am Messegelände und der Großbaustelle für den neuen Stadtteil Europaviertel vorbei. Am Ende der Camberger Straße halten wir an einer roten Ampel vor den wartenden Autos in einem weiß markierten Rechteck, einem sogenannten Auffangstreifen für Radfahrer. So sehen uns die Autofahrer besser. Beim Linksabbiegen können wir vor den Autos fahren und müssen nicht neben ihnen stehen bleiben.

Es sind solche vermeintlich kleinen Maßnahmen, die darüber entscheiden, ob sich Fahrradfahrer in einer Stadt sicher fühlen oder nicht. Und davon gibt es viele: Abgesenkte Bordsteine erleichtern das Überqueren von Straßen auf dem Rad. Extra hohe Bordsteine halten Autofahrer davon ab, auf Radwegen zu parken. Gut sichtbare Markierungen auf der Fahrbahn machen darauf aufmerksam, dass Fahrradfahrer unterwegs sind. Schilder zeigen Radfahrern an, wie sie am besten ihr Ziel erreichen. Eine kluge Verkehrsführung vermeidet Umwege und macht Radfahrer so schneller als Autos. In Frankfurt dürfen Radfahrer beispielsweise alle Einbahnstraßen, in denen Tempo 30 gilt, in beiden Richtungen befahren.

"Eine Stadt fahrradfreundlich zu machen, dauert Jahrzehnte", sagt Fritz Biel, der verkehrspolitische Sprecher des Frankfurter Kreisverbandes des Allgemeinen Deutschen Fahrrad-Clubs (ADFC) . Frankfurt fing 1991 damit an: Die damalige rot-grüne Stadtregierung beschloss ein Radverkehrskonzept und baute erste Routen durch die Stadt. "Doch die Anfangseuphorie war schnell vorbei", sagt Biel, der seit 20 Jahren für den ADFC arbeitet. "Die damalige CDU stellte sich massiv dagegen. Für sie war Radverkehr nicht viel mehr als ein grünes Hobby." Was folgte, so Biel, war ein ständiger Kampf. Auch die Verwaltung weigerte sich: Ein Ausbau des Radverkehrs erschien den Beamten zu aufwendig, zu teuer, zu unwichtig. Die Entwicklung des Radverkehrs wurde jahrelang vernachlässigt.

 Fahrradfahrer auf die Straße

2006 kam Schwarz-Grün an die Macht und gründete ein Verkehrsdezernat, mit einem grünen Chef an der Spitze. Seit 2009 werden die städtischen Aktivitäten in Sachen Radverkehr in einem Radfahrbüro im Straßenverkehrsamt gebündelt. Die Mitarbeiter machen Werbung fürs Fahrradfahren, verteilen Frühstücksbeutel an Radler auf dem Weg zur Arbeit oder Schoko-Nikoläuse im Winter. Auch der Kontakt zur Verwaltung wurde vereinfacht: Seit April 2010 können Radfahrer Mängel der Infrastruktur online direkt an das Radfahrbüro melden – 1.300 solcher Meldungen sind bislang eingegangen.

Wir halten in einer ruhigen Wohnstraße mit Reihenhäusern im südlichen Westend. Hier, an der Robert-Mayer-Straße, hat das Straßenbauamt gerade einen über die Online-Plattform gemeldeten Missstand beseitigt. Bis vor Kurzem endete der Radweg auf dem Gehweg abrupt auf der Straße, ohne entsprechende Markierungen. Die Folge: Autos parkten den Übergang zu, Radfahrer mussten sich zwischen den Wagen auf die Fahrbahn mogeln oder auf dem Bürgersteig fahren, was die Fußgänger ärgerte. Jetzt zeigen zwei weiße Dreiecke und ein Fahrrad-Piktogramm auf der Straße an, dass der Radweg auf der Fahrbahn weitergeht und das Parken hier verboten ist. "Demnächst stellen wir in den Dreiecken noch Fahrradbügel zum Anschließen auf, dann wird es noch deutlicher", sagt Friede.

Fahrradanteil von 15 Prozent

Rund 3,5 Millionen Euro stellt die Stadt jedes Jahr für die Fahrradförderung zur Verfügung. Dazu kommen Ausgaben für reguläre Straßenbauvorhaben, die ebenfalls Arbeiten für die Radinfrastruktur beinhalten. Mittlerweile seien sich alle Parteien einig, den Radverkehr zu fördern, sagt Verkehrsreferent Bolle. "Denn jeder sieht, dass es der Stadt gut tut, wenn mehr Menschen mit dem Fahrrad und weniger mit dem Auto unterwegs sind." Die Straßen sind leerer, der Verkehr fließt besser, weniger Abgase verschmutzen die Luft.

Das Ergebnis des Konsens kann sich sehen lassen: Der Radverkehrsanteil hat sich bis 2008 – aktuellere Zahlen gibt es nicht – auf knapp 13 Prozent mehr als verdoppelt. Gleichzeitig sank der Anteil des motorisierten Individualverkehrs, also der Auto-, Lkw- und Motorradfahrer, seit 1998 von 40 auf 34 Prozent. Ziel der Stadt ist es, den Fahrradanteil bis 2012 auf 15 Prozent zu erhöhen. "Wir gehen davon aus, dass wir den jetzt schon erreicht haben", schätzt Ingmar Bolle.

Mittlerweile kann der Ausbau der Infrastruktur allerdings nicht mehr mit dem rasant wachsenden Radverkehrsanteil mithalten. "Die Leute sind schneller auf dem Rad als die Planung auf der Straße", sagt Biel. Das liegt unter anderem daran, dass in der Vergangenheit nicht bei jedem Straßenbau oder bei jeder Neugestaltung Radfahrer von Anfang an berücksichtigt wurden. Das Ergebnis: Das Radwegenetz hat viele Lücken. Diese zu schließen ist ein Ziel der schwarz-grünen Stadtregierung.

Aber nicht alles verläuft immer reibungslos: So wurden bei der Sanierung der Friedberger Landstraße die Straßenlaternen mitten auf den neu angelegten Radweg gesetzt. Zu unsicher, bemängelten ADFC und Stadt. Jetzt müssen die Laternen wieder rausgerissen und versetzt werden.

Andere Neuerungen verwirren die Radfahrer, wie Bolle und Friede an der Frankenallee im Stadtviertel Gallus zeigen. Ein weißes Fahrrad-Piktogramm auf der Straße signalisiert: Hier dürfen Radfahrer in der Tempo-30-Zone auch die Fahrbahn benutzen. Die Stadt will die Fahrradfahrer auf der Straße haben, denn hier sehen Autofahrer sie besser. 

Allerdings gibt es auch einen Radweg auf dem Bürgersteig. Auch den können Radfahrer benutzen, müssen sie aber nicht. Der Radweg soll verschwinden, aber erst, wenn ohnehin Bauarbeiten an der Frankenallee, wo sich Wohnhäuser, Büros und Werkstätten aneinanderreihen, anstehen. Alles andere wäre zu aufwendig und zu teuer. Jetzt wissen viele Radfahrer nicht, wo sie fahren sollen. Anwohner berichten sogar von Polizisten, die Fahrern auf dem Radweg fälschlicherweise Knöllchen verpassen. "Wir prüfen das", verspricht Thomas Friede. Und fügt den vielen kleinen Baustellen auf dem Weg zur Fahrradstadt eine neue hinzu.