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Heiner Geißler: Provokateur, Mahner, Schlichter

Foto: Bernd Weissbrod/ dpa

Vor Stresstest-Präsentation Geißler verlangt deutliche Nachbesserungen von der Bahn

Als Schlichter im Streit um Stuttgart 21 hat Heiner Geißler seine große Altersrolle gefunden. Kurz vor der öffentlichen Stresstest-Präsentation nimmt er im Interview die Bahn in die Pflicht, erzählt von seinem reinen Gewissen - und gibt Ministerpräsident Kretschmann einen Rat.

SPIEGEL ONLINE: Herr Geißler, ganz ehrlich: Ist die S21-Frage nicht längst entschieden?

Geißler: Ich vermute mal, dass der neue Bahnhof in Stuttgart - wenn er dann gebaut ist - nicht identisch mit dem sein wird, der einst als S21 geplant wurde. Das wird mindestens ein Bahnhof S21 plus sein.

SPIEGEL ONLINE: Wofür steht das "Plus"?

Geißler: Das werden wir sehen. Auch deshalb sitzen wir am Freitag zusammen und machen eine öffentliche Stresstest-Präsentation.

SPIEGEL ONLINE: Die Gegner von Stuttgart 21 werden jeden Bahnhof als Niederlage ansehen, der an dieses Projekt erinnert.

Geißler: Sieg und Niederlage sind in diesem Zusammenhang keine zureichenden Beschreibungen. Es muss ohnehin gebaut werden. Auch die Gegner von S21 wollten ja bauen - nur andersherum, einen modernisierten Kopfbahnhof. Das Schlichtungsverfahren hatte nicht das Ziel, dass aus den Projekt-Gegnern plötzlich -Befürworter und andersherum werden. Wir haben einen Faktencheck gemacht, zu dem alle an einen Tisch gebracht wurden. Die waren drauf und dran, sich die Schädel einzuschlagen. Diese Faktendiskussion auf Augenhöhe, mit totaler Transparenz durch die Öffentlichkeit - das war eine große Hilfe für die Auseinandersetzung.

SPIEGEL ONLINE: Was wird am Ende der öffentlichen Stresstest-Präsentation stehen?

Geißler: Das weiß ich nicht. Wir machen am Freitag eine längere Sitzung, die dauert mehrere Stunden.

SPIEGEL ONLINE: Sie haben mal gesagt, "den Vorleser mache ich nicht". Was werden Sie am Freitag sein?

Geißler: Das wird man sehen können, wenn die Präsentation zu Ende ist.

SPIEGEL ONLINE: Die S21-Gegner werden am Freitag nun doch dabei sein, aber sie fordern bereits einen zweiten Stresstest. Was spricht dagegen?

Geißler: Jedenfalls kann man das nicht innerhalb dieses Verfahrens machen. Der aktuelle Stresstest und das Gutachten der Firma SMA geht ja mit auf einen Vorschlag der Projektgegner zurück, also der Grünen und des Aktionsbündnisses - die Bahn hat dem zugestimmt. Keiner der Projektgegner hat damals einen zweiten Stresstest gefordert. Und unabhängig von der Berechnungsgrundlage, zu der es berechtigte Fragen gibt, steht fest: SMA bestätigt, dass der neue Bahnhof in der Lage ist, einen Verkehr mit der Abfolge von 49 Zügen zu ermöglichen.

SPIEGEL ONLINE: Damit sind die Anforderungen an den Bahnhof erfüllt?

Geißler: Ziel des Schlichtungsspruchs war, dass die Bahn per Stresstest die Leistungssteigerung von S21 nachweist - bei guter Betriebsqualität und unter Zugrundelegung allgemein anerkannter Standards im Bahnverkehr. Dieses Ziel ist erreicht. Natürlich muss man darüber diskutieren, ob auch alle Prämissen eingehalten wurden - das werden wir am Freitag erörtern. Ich bin auch der Meinung, eine gute Betriebsqualität muss darin bestehen, dass der neue Bahnhof mögliche Verspätungen abbauen kann. Da ist im Moment eine Begriffsklauberei im Gange, die der normale Mensch nicht versteht: "Premium" ist Verspätungsabbau, "Optimum" ist kein Zuwachs an Verspätungen - da halten uns die Leute zu Recht für blöd.

SPIEGEL ONLINE: Der neue Bahnhof muss aus Ihrer Sicht Verspätungen abbauen?

Geißler: Natürlich. SMA hat ja bereits testiert, dass keine zusätzlichen Verspätungen entstehen werden. Aber das reicht nicht. Die Bahn kann unmöglich sagen: "Wir bauen einen Bahnhof, der es aber nicht schafft, Verspätungen abzubauen." Genau darauf hat der Kunde einen Anspruch.

SPIEGEL ONLINE: So argumentiert der Grünen-Politiker und S21-Gegner Boris Palmer.

Geißler: Da sind wir einer Meinung, der Palmer und ich.

SPIEGEL ONLINE: Und was passiert, wenn die Bahn das nicht gewährleisten kann am Freitag?

Geißler: Sie wollen offenbar meine Vorhersage-Kunst austesten. Wenn sich herausstellt, dass die sogenannte Premiumqualität bei S21 nicht gegeben ist, muss die Bahn sich am Freitag verpflichten, das herzustellen. Ebenso, dass der neue Bahnhof behinderten- und familienfreundlich ist und die Brandschutzmaßnahmen der Stuttgarter Feuerwehr realisiert werden. Das alles wurde ja schon in der alten Schlichtung bestimmt - am Freitag muss es noch einmal verbindlich gemacht werden.

SPIEGEL ONLINE: Wenn das so kommt…

Geißler: Was heißt hier, "wenn das so kommt?" - es wird so kommen!

SPIEGEL ONLINE: Dann sind wir bei der Kostenfrage. Billiger wird das nicht für die Bahn.

Geißler: Da haben Sie ganz recht.

SPIEGEL ONLINE: Also wird die Kostengrenze überschritten?

Geißler: Das ist nicht Gegenstand der Schlichtung. Darüber hat dann die Politik zu entscheiden.

SPIEGEL ONLINE: Haben Sie ein reines Gewissen gegenüber den S21-Gegnern?

Geißler: Ein absolut reines. Wenn die mich nicht gehabt hätten, wären sie heute noch die Schmuddelkinder wie im vergangenen September.

SPIEGEL ONLINE: Mancher sieht sie als trojanisches Pferd der S21-Befürworter.

Geißler: Das sagen Leute, die nur im Blockade-Denken geschult sind. Auf die kann ich verzichten. Aber solche Betonköpfe gibt es auf beiden Seiten.

SPIEGEL ONLINE: Hätten Sie bei der Schlichtung rückblickend etwas anders gemacht?

Geißler: Es war ausgemacht, dass die Bahn die Projektgegner bei der Prämissenformulierung für den Stresstest beteiligt. Das war eine ausdrückliche Absprache mit der Bahn und die Projektgegner waren darüber informiert. Ich habe dann vier Monate nichts mehr dazu gehört und dachte mir auch nichts dabei, ich muss die Leute ja nicht jede Woche auf den Topf setzen. Irgendwann stellte sich heraus, dass es nicht passiert war. Aber da hätten die Gegner natürlich auch mehr auf Zack sein müssen.

SPIEGEL ONLINE: Bereuen Sie es manchmal, den Job als S21-Schlichter angenommen zu haben?

Geißler: Nein.

SPIEGEL ONLINE: Was würden Sie an Stelle des grünen Ministerpräsidenten Kretschmann jetzt tun?

Geißler: Ich bin nicht an seiner Stelle.

SPIEGEL ONLINE: Vielleicht wenigstens ein Ratschlag?

Geißler: Er muss sich selber treu bleiben und die Volksabstimmung respektieren.

SPIEGEL ONLINE: Was machen Sie, wenn S21 endlich entschieden ist?

Geißler: Ich werde interessiert verfolgen, was in Stuttgart passiert. Ansonsten finden Sie mich in den Bergen und beim Bücherschreiben.

Das Interview führte Florian Gathmann
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