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Brian Eno "Ich bin ein Sklave der Vernetzung"

Musik machen per Community? Den Mann, der mit U2 und Coldplay im Studio war, überzeugt das nicht. Auch die ständige Erreichbarkeit sieht Brian Eno kritisch: Es sei heute schwierig, ohne Unterbrechung nachdenken, schreibt der Künstler - und trauert seinem Faxgerät nach.
Musikproduzent Eno: "Schwierig, einen ganzen Morgen ohne Unterbrechung nachzudenken"

Musikproduzent Eno: "Schwierig, einen ganzen Morgen ohne Unterbrechung nachzudenken"

Foto: Daniel Berehulak/ Getty Images

Mir fällt auf, dass gewisse radikale Gesellschaftsexperimente, die selbst dem idealistischsten Anarchisten vor fünfzig Jahren noch utopisch erscheinen mussten, sich jetzt reibungslos und ohne großen Wirbel vollziehen. Zu diesen zählen die Open-Source-Entwicklung, Shareware und Freeware, Wikipedia, MoveOn und UK Citizens Online Democracy.

Mir fällt auf, dass das Netz die Welt nicht ganz auf dieselbe Weise befreite, wie wir es erwartet hatten. Repressive Regime können es ausschalten, und liberale können es als Propagandainstrument verwenden. Auf der positiven Seite fällt mir auf, dass die unterschiedliche Vertrauenswürdigkeit des Netzes die Menschen skeptischer gegenüber den Informationen gemacht hat, die sie aus allen anderen Medien beziehen.

Mir fällt auf, dass ich jetzt mein Wissen als Flickwerk aus einem breiteren Spektrum an Quellen verdaue als in der Vergangenheit. Außerdem fällt mir auf, dass ich weniger dazu neige, nach durchkomponierten, fertigen Erzählungen zu suchen, und es mehr bevorzuge, meine eigene Collage aus dem zu machen, was ich finden kann. Mir fällt auf, dass ich Bücher kursorischer lese und sie auf dieselbe Weise abtaste, wie ich das Netz abtaste - indem ich "Lesezeichen" setze.

Mir fällt auf, dass der Jahrhundertwendetraum des Bioethikers Darryl Macer, eine Landkarte aller Begriffe der Welt zu machen, auf autonome Weise Wirklichkeit wird - in Form des Netzes.

Die Vorstellung der "Gemeinschaft" hat sich verändert

Mir fällt auf, dass ich mit mehr Menschen kommuniziere, aber weniger eingehend. Mir fällt auf, dass es möglich ist, vertrauliche Beziehungen zu haben, die nur im Netz existieren und wenig oder gar keine körperlichen Bestandteile aufweisen. Mir fällt auf, dass es sogar möglich ist, sich an komplexen sozialen Projekten zu beteiligen, wie z. B. Musik zu machen, ohne je die anderen Mitarbeiter zu sehen. Vom Wert dieser Veränderungen bin ich nicht überzeugt.

Mir fällt auf, dass die Vorstellung der "Gemeinschaft" sich verändert hat: Während dieser Begriff einst eine bestimmte physische und geographische Verbundenheit zwischen den Menschen bezeichnete, kann er jetzt "die Ausübung gemeinsamer Interessen" bedeuten. Mir fällt auf, dass ich jetzt zu Hunderten von Gemeinschaften gehöre - die Gemeinschaft der Leute, die sich für aktive Demokratie interessieren, die Gemeinschaft der Leute, die sich für Synthesizer, für Klimawandel, für Tommy-Cooper-Witze, für das Urheberrecht, für A-cappella-Gesang, für Lautsprecher, für die Philosophie des Pragmatismus, für die Evolutionstheorie etc. interessieren.

Der Begriff des "Experten" hat sich verändert

Mir fällt auf, dass der Wunsch nach Gemeinschaft bei Millionen von Menschen so stark ist, dass sie völlig fiktionalen Gemeinschaften angehören, wie z. B. Second Life und World of Warcraft. Meine Sorge ist, dass das zu Lasten des wirklichen Lebens gehen könnte.

Mir fällt auf, dass ich mehr Zeit als zuvor mit Wörtern und Sprache verbringe - weil das die Währung des Netzes ist. Meine Notizbücher brauchen länger, um voll zu werden. Mir fällt auch auf, dass ich dem Verschwinden des Faxgeräts nachtrauere, weil es ein persönlicheres Kommunikationsinstrument als E-Mail ist, da es Zeichnen und handschriftliches Schreiben erlaubte. Mir fällt auf, dass mein Geist sich auf eine hauptsächlich sprachliche gegenüber einer z. B. visuellen Funktionsweise eingerichtet hat.

Mir fällt auf, dass sich der Begriff des "Experten" verändert hat. Ein Experte war gewöhnlich "jemand, der Zugang zu besonderen Informationen hatte". Da jetzt aber so viele Informationen jedermann gleichermaßen zugänglich sind, wird der Begriff des "Experten" zu "jemand, der die Informationen besser interpretieren kann". Das Urteil hat den Zugang ersetzt.

Ich unterschreibe Dinge, die ich nicht wirklich verstehe

Mir fällt auf, dass ich ein Sklave der Vernetzung geworden bin - dass ich meine E-Mails mehrmals am Tag nachschaue, dass ich mir Sorgen über den Haufen unerbetener und unbeantworteter Mails in meinem Eingangsordner mache. Mir fällt auf, dass es schwierig ist, einen ganzen Morgen lang ohne Unterbrechung nachzudenken. Mir fällt auf, dass man von mir erwartet, dass ich E-Mails sofort beantworte, und dass es schwierig ist, dies nicht zu tun. Mir fällt auf, dass ich infolgedessen impulsiver bin.

Mir fällt auf, dass ich häufiger Geld spende als Reaktion auf Aufrufe im Internet. Mir fällt auf, dass sich "Meme" jetzt wie bösartige Infektionen durch den Überträger des Netzes verbreiten können - und dass das nicht immer gut ist. Mir fällt auf, dass ich manchmal Petitionen zu Dingen unterschreibe, die ich nicht wirklich verstehe, und zwar nur deshalb, weil es so leicht ist. Ich nehme an, dass diese Art von Verantwortungslosigkeit weit verbreitet ist.

Mir fällt auf, dass alles, was das Netz verdrängt, an einer anderen Stelle in modifizierter Form wieder auftaucht. Beispielsweise gingen Musiker gewöhnlich auf Tournee, um für ihre Schallplatten Werbung zu machen, aber seit Schallplatten oder CDs wegen illegaler Downloads nicht mehr viel Geld einbrachten, machen sie jetzt Schallplatten, um für ihre Tourneen zu werben. Buchhandlungen, deren Angestellte sich mit Büchern auskennen, und Plattenläden, deren Angestellte sich mit Musik auskennen, werden häufiger.

Mir fällt auf, dass, je mehr das Netz kostenlose oder billige Versionen von etwas bereitstellt, die "authentische Erfahrung" - die einzigartige, unvermittelte Erfahrung - höher geschätzt wird. Mir fällt auf, dass die Urheber denjenigen Aspekten ihrer Arbeit mehr Aufmerksamkeit widmen, die nicht vervielfältigt werden können. Das "Authentische" hat das Reproduzierbare ersetzt.

Mir fällt auf, dass kaum jemand unter uns über das Chaos nachgedacht hat, das sich ergeben würde, wenn das Netz zusammenbräche.

Mir fällt auf, dass mein Alltag mehr durch mein Mobiltelefon verändert wurde als durch das Internet.