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S.P.O.N. - Die Mensch-Maschine Digitale Ungeduld

Wenn Geduld eine Tugend ist, ist Ungeduld dann eine Untugend? Nicht immer, meint Kolumnist Sascha Lobo. Und schon gar nicht im digitalen Raum.

Chen-Bo Zhong und Sanford E. DeVoe von der Universität Toronto veröffentlichten 2010 eine Studie über Fast Food. Ein Teil der Ergebnisse hat die Überraschungsintensität von "Transformers 3": Fast Food macht ungeduldig .

Die Studie möchte recht offensichtlich Fast Food in schlechtem Licht erscheinen lassen. Vermutlich zu Recht, obwohl es wirkt, als betone man die Nachteile eines Flugzeugabsturzes. Aber die spannendste Erkenntnis ist nicht eindeutig negativ: Schon die Präsenz eines Fast-Food-Logos reicht aus, um die Lesegeschwindigkeit von Texten zu erhöhen. Die Autoren schließen daraus, dass es eine Art Kultur der Ungeduld gibt, die auch auf andere Lebensbereiche Auswirkungen hat: Ungeduld ist ansteckend.

Dabei hat Ungeduld schon länger arge Imageprobleme. Die katholische Kirche kennt sieben himmlische Tugenden, zu denen die Geduld zählt. Die gegenübergestellte Todsünde nennt sich zwar Zorn, aber über Jahrhunderte das explizite Gegenteil einer himmlischen Tugend zu sein, wirkt trotzdem kaum verkaufsfördernd. Und nicht nur in der Kultur ist Ungeduld ungünstig beleumundet. Geduld und ihr biologischer Zwilling, die Impulskontrolle, sind wesentliche Erfolgskriterien in der westlichen Gesellschaft. 1968 zeigte ein Experiment von Walter Mischel  , dass die Impulskontrolle bei Kindern ein Maßstab für Erfolg ist. Wer eine Süßigkeit eine Viertelstunde liegen lassen konnte, bekam als verzögerte Belohnung zwei - und war später im Leben signifikant erfolgreicher.

Alle weltverändernden Prozesse fühlen sich schneller an als Politik

Aber vielleicht ist durch die digitale Vernetzung die Zeit vorüber, in der Geduld ausschließlich positiv belegt war und Ungeduld negativ. Den entscheidenden Wandel hat der Medientheoretiker und Künstler Peter Weibel in einem Interview mit der "taz" beschrieben. Als eine der Ursachen politischer Protestbewegungen macht er die durch den Fortschritt befeuerte Ungeduld aus : "Die Leute sind in der technischen Welt ein extrem kurzes Reiz-Reaktions-Verhältnis zwischen ihren Wünschen und der Umwelt gewohnt. Die Erfahrung des Bürgers ist also, dass er in allen Bereichen des Lebens auf einen Knopf drückt, eine Reaktion kommt und sich etwas verändert; nur in der Politik kommt nichts."

Diese Analyse betont die positive Kraft der digitalen Ungeduld ebenso wie die negative Seite der Geduld: die Duldsamkeit gegenüber inakzeptablen Zuständen. Das gilt für den politischen Apparat so stark, weil sich bis auf die Kontinentaldrift ungefähr alle weltverändernden Prozesse schneller anfühlen als Politik.

Die Erwartungshaltung, dass für das Netzpublikum "sofort" den einzig akzeptablen Zeitrahmen darstellt, hat Peter Glaser schon 2007 Sofortness genannt . Ganze Märkte entstehen aus der Sofortness heraus. Die Entscheidung, eine Facebook-Applikation  zu nutzen, wird sehr spontan getroffen, nämlich wenn die Zahl der bekannten Nutzer einen kritischen Wert übersteigt.

Ungeduld ist unerbittlich

Sofortness, die technologische Seite der Ungeduld, steckt aber auch hinter dem Untergang von Märkten. In einer der wenigen nicht lobbyvergifteten Studien zum Thema illegale Downloads hat sich gezeigt, dass Ungeduld der wichtigste Faktor beim nicht rechtmäßigen Herunterladen von Software ist. Für Musik dürfte Ähnliches gelten. Aus dem eigenen Erleben dürften viele die Ernüchterung kennen, wenn ein phantastisches Musikstück oder eine spannende neue TV-Serie nirgends legal zum sofortigen Download angeboten wird. Sogar moralisch gefestigte Charaktere geraten dann in die Versuchung, mit einem Klick ihrer Ungeduld nachzugeben. Als Kompromiss mit dem eigenen Gewissen wird dann der spätere Kauf der DVD ausgehandelt. Oder sich zumindest ganz fest vorgenommen. Jedenfalls, wenn der Film gut ist.

An vielen Stellen der digitalen Sphäre wirkt Ungeduld explizit positiv, weil sie ein Korrektiv darstellt. Feedback-Plattformen wie getsatisfaction.com organisieren für Internetfirmen den Beschwerdestrom ungeduldiger Nutzer und zeigen anhand von Statistiken, wo dringender Handlungsbedarf besteht. Ein Netzunternehmen mit geduldigen Nutzern würde von seinem Optimierungspotential vermutlich erst erfahren, wenn es zu spät ist. Aber Ungeduld ist unerbittlich, und sie setzt immer früher ein - inzwischen ist manchen Nutzern sofort schon fast zu spät.

Seit einigen Jahren ist deshalb Echtzeit einer der Treiber des Internets. Die wirtschaftliche und gesellschaftliche Zugkraft der Echtzeit ist noch längst nicht ausgereizt und zeigt sich besonders dort, wo auch die größten Wachstumsraten im Netz sind: bei der Interaktion zwischen Menschen. Kevin Rose, Gründer der sozialen News-Plattform digg.com, hat Tage nach Start von Google+ sein Blog kevinrose.com  aufgegeben und die Adresse umgeleitet auf sein G+Profil. Bezeichnend ist der Grund, den er dafür angegeben hat: Er habe dort mehr und schnelleres Feedback in Echtzeit bekommen als jemals auf seinem Blog.

Echtzeit, die techno-logische Konsequenz der Ungeduld, ist auch verantwortlich für die intensiven Reaktionen dort, denn Nutzerkommentare werden instantan  eingeblendet, ohne dass man die Seite neu laden muss. Es ergibt sich eine chathafte Situation, ein digitales Gespräch in Echtzeit, das faszinierende Gefühl, live dabei zu sein, wo genau jetzt etwas passiert im Netz. Ungeschmeidiger, langsamer funktionierende Kommentarsysteme werden große Probleme bekommen.

Die Wirkung der digitalen Ungeduld bleibt nicht auf das Internet beschränkt

Da besonders die versierten Nutzer ein hohes Maß an digitaler Ungeduld aufweisen, könnte sich zumindest in der digitalen Sphäre die Erkenntnis von Walter Mischel ins Gegenteil verkehren: Wer im Internet immer brav wartet, bis die versprochene Belohnung endlich eintrifft, wer immer duldsam mit Zumutungen umgeht, wird digital zurückfallen und davon irgendwann auch einen wirtschaftlichen Nachteil davontragen - er wird weniger erfolgreich sein. Im Netz bewirken Geduld und Impulskontrolle, dass man sich mühsam in unzureichende Produkte einarbeitet und daran gewöhnt. Es ist, als ließe man sich eine digitale Hornhaut wachsen, anstatt nach neuen, besseren Lösungen zu suchen.

Natürlich wird man auch in Zukunft Zeit und Geduld brauchen, um komplexe Texte und Zusammenhänge zu verstehen. Aber tiefes Verständnis ist nur ein Teil des gesellschaftlichen Erfolgs, denn fast niemand liest hauptberuflich Hegel. Und für viele der digitalen Non-Hegel-Aktivitäten hat sich Ungeduld ins Positive gedreht.

Das Überangebot an allem im Netz hat im Verbund mit Beschleunigung und Usability zu einem reversen Digitaldarwinismus geführt: ein Produkt, das es nicht schafft, die Ungeduld des Nutzers in Schach zu halten, hat keine Chance. Weil die digitale Vernetzung immer tiefer in die Gesellschaft eingreift, bleibt die Wirkung der digitalen Ungeduld nicht auf das Internet beschränkt. Auf fixmystreet.co.uk  und dem bezeichnend benamten seeclickfix.com  können Nutzer in Großbritannien und den USA infrastrukturelle Mängel angeben. Die gemeldeten Probleme wie Schlaglöcher oder defekte Beleuchtung werden in die administrative Maschinerie eingespeist. Man braucht nicht viel Phantasie, um sich einen Nutzer vorzustellen, der zwei Stunden nach seinem Eintrag bereits nervös nach dem Reparaturtrupp für die kaputte Straßenlaterne Ausschau hält.

Diese digitale Sollbruchstelle zwischen Bürger und Staatsapparat wird irgendwann brechen, und es wird kein schönes Geräusch sein. Der mittelfristige Sieger steht auch bereits fest, denn die Mischung aus Volksungeduld und Vernetzung kann sehr machtvoll sein, wie die Herren Mubarak und Ben Ali auf Nachfrage sicher bestätigen werden.

Die Kultur der Ungeduld, ausgemacht von den Forschern der Uni Toronto, mag in Fast Food eines ihrer Symbole finden. Aber auch das Gegenteil ließe sich mit einer Nahrungsmetapher belegen. Wenn es eine Hochkultur der Geduld gibt, dann spiegelt sie sich in der Kunst des besonders langsamen Trinkens: der japanischen Teezeremonie, die mindestens vier Stunden dauert. Insofern sollte es legitim sein, für die Definition von Geduld ein altes, japanisches Sprichwort zu bemühen: "Geduld ist die Kunst, nur langsam wütend zu werden." Der erste Kommentar dazu im Netz würde lauten: Aber manchmal ist es wirksamer, schnell wütend zu werden.

tl;dr

Mit dem Internet und seiner Beschleunigung wandelt sich Ungeduld zur positiveren Eigenschaft, weil sie vernetzt die Welt verändern kann.

(In Anerkennung der Ungeduld als Eigenschaft mit positiven Facetten soll fortan unter jeder Mensch-Maschine eine twitterfähige Zusammenfassung des Textes in 140 Zeichen stehen. Sie wird den Namen tl;dr tragen, eine Internet-Abkürzung für "too long; didn't read".)