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Mikrotrends: Warum wir das nächste große Ding verpassen

Foto: Matt Sayles/ AP

Musiktrends Wie der Pop zersplittert

Eine Platte, die alle begeistert? Ein Trend, der alle elektrisiert? Wer sich nach solchen Momenten sehnt, verkennt: Der Pop hat sich grundlegend verändert. Im Zeitalter des Mikrotrends sind wir für das nächste große Ding gar nicht mehr bereit.

Als größtes Krisensymptom der aktuellen Popmusik gilt, dass sie schon so lange kein "nächstes großes Ding" hervorgebracht hat, dass es keinen Trend gibt, der länger als einen Sommer anhält, keine Stilrichtung, die sich über Jahre hinweg als produktiv erweist. Diese Diagnose führt aber ins Nichts, denn sie legt nicht offen, was ihre Kriterien sind. Wer sich genauer mit neuer Popmusik und ihren Entstehungsbedingungen beschäftigt, wird feststellen, dass es zuallererst die Kriterien und nicht die Musik sind, die in der Krise stecken.

Der Pop der Gegenwart ist sprachlich kaum mehr in den Griff zu bekommen - er stellt sich in jeder Hinsicht als Fragment dar. Wir mögen uns vielleicht nach dem nächsten großen Ding sehnen, dem Hype, der alle wegfegt, der Platte, die alle kaufen, der Band, die alle live sehen wollen. Doch die Digitalisierung hat die Bedingungen für das Aufkommen des nächsten großen Dings grundlegend geändert. Würde es uns in diesem Moment vor die Füße fallen, stünden die Chancen gut, dass wir dafür gar keine Begriffe mehr hätten - und wahrscheinlich, trotz aller anders lautenden Bekundungen, auch keinen Nerv.

Schon immer hat neue Musik auch neue Worte mit sich gebracht. Fans suchen nach Begriffen, um anderen von ihren Entdeckungen vorschwärmen zu können. Kritiker erfinden Genres, um die eigene Urteilskraft unter Beweis zu stellen. Plattenläden entscheiden sich für Labels, damit sie ihr Angebot ordnen können. Mit der Digitalisierung und damit der Zersplitterung der Veröffentlichungsformen von Musik ist dieser Prozess des Beschreibens und Benennens aber ebenfalls zersplittert. Wo Musik nur noch in kleinen Einheiten, also Songs und nicht mehr Alben, erscheint, müssen auch sprachlich feinere Netze ausgeworfen werden, um ihrer habhaft zu werden.

Was soll bitte "Post-Dubstep" sein?

So reichen mittlerweile drei, vier Songs aus, um ein eigenes Genre zu begründen. 2009 waren das Washed Outs "Feel It All Around", Neon Indians "Deadbeat Summer" sowie "My Touch" von Toro Y Moi. Zusammen ergaben sie Chillwave, ein Genre mit wunderbar dämlichem Namen und phantastischem Blog-Buzz - aber einem Back-Catalogue von kaum mehr als 200 Kilobyte.

Im Juli 2011 haben Washed Out schließlich das erste Album veröffentlicht - ein schillerndes Werk, sinnlich, üppig, sorgfältig bis überambitioniert produziert. Toro Y Moi hat sich äußerst produktiv in Richtung House geöffnet, mit zwei Alben und mehreren EPs seit 2009. Und auch Neon Indians zweites Album, das Ende September erscheint, scheint das gloriose Sommerpop-Versprechen des Vorgängers einzulösen. Aber Chillwave als Genre? Eine Klammer, deren Bündelungskraft gar nicht erst getestet wurde. Eine These, die gerade, als sich das Forschungsmaterial zu häufen begann, nicht mehr diskutiert wurde.

Statt genauer Bezeichnung erreicht die Verschlagwortung im Internet immer häufiger ihr Gegenteil, nämlich mittelgroße Nachlässigkeit. Das zeigt sich auch an einem der buzz words des laufenden Jahres: "Post-Dubstep". Einige der interessantesten aktuellen KünstlerInnen - zum Beispiel Katy B oder SBTRKT - sind mit diesem Label bedacht worden, ohne dass klar wäre, was es eigentlich bedeuten soll. Der Begriff "Post-Rock" für Bands wie Tortoise oder Mogwai signalisierte noch, dass sich diese reflexiv mit Rockmusik und deren ästhetisch-kulturellen Erbe auseinandergesetzt hatten.

Der Begriff "Post-Dubstep" markiert hingegen nichts als das Vergehen von Zeit. Sieben, acht Jahre mag Dubstep bereits existieren. Eine kritische, selbstreflexive Absetzungsbewegung dazu, wie sie Post-Rock in Bezug auf Rock bedeutete, gibt es aber nicht. Im Gegenteil: Katy B hat Dubstep Pop-Appeal verliehen, SBTRKT hat die Schnittstellen zu R'n'B vergrößert. All das müsste eigentlich als Beweis dafür gelten, dass Dubstep ein Genre mit noch immer nicht ausgeschöpftem Klang- und Zeichenpotential ist - also mithin ein vielleicht nicht großes, aber doch mittelgroßes Ding. Stattdessen hackt der digitale Zeitgeist lieber den neu wachsenden Ast ab und nennt ihn eine neue Pflanze. So ergibt sich, um im Bild zu bleiben, der Effekt, dass man den Baum vor lauter Ästen nicht sieht. Für große Dinge scheinen uns mittlerweile schlicht die großen Begriffe zu fehlen.

Hit-Single, aber noch nie live gespielt

Diese Abkopplung von Schlagwort und Inhalt bringt mittlerweile nicht nur KritikerInnen und BloggerInnen in Not. Auch MusikerInnen stehen vor neuen Herausforderungen. Die britische Band Wu Lyf etwa veröffentlichte im Frühjahr 2010 drei Songs im Internet, die sofort begeistert gehört und besprochen wurden. Infos zur Band gab es keine, nur ein Foto, auf dem neun junge Menschen mit weißen Tüchern vorm Gesicht zu sehen waren, zirkulierte im Netz. Als im Juni 2011 schließlich Wu Lyfs Debütalbum "Go Tell Fire to the Mountain" erschien und erstmalig die Namen und Gesichter der tatsächlich vierköpfigen Band bekannt wurden, war eine der bestimmenden Reaktionen: langweilige Geheimnistuerei, blöde PR-Maßnahme, einigermaßen überholt.

Die Band selbst beschreibt die Situation völlig anders. "Uns ging es nie um Anonymität, Geheimnisse", heißt es in einem offiziellen Statement. "Narzissmus scheint eine solche kulturelle Norm geworden zu sein, dass einem, wenn man keine Lust darauf hat, sein Gesicht zu veröffentlichen, seinen Namen gedruckt zu sehen und seine Biografie zu veröffentlichen, nun vorgeworfen wird, eine Masche zu bedienen." In Interviews hätte man zum Zeitpunkt des ersten Blog-Hypes einfach noch nichts zu sagen gehabt - schließlich hatte man nicht mehr als eine Handvoll Songs beisammen. Erst ein Jahr später hätte man mit dem Album genug Stoff für ganze Konzerte und sinnvolle Interviews gehabt, deshalb die vermeintliche späte "Enttarnung".

Ganz ähnlich erging es der New Yorker Band Cults. Seine ersten drei Songs lud das Duo eine Woche nach der Fertigstellung hoch. "Ganz schnell", erzählte Sängerin Madeline Follin dem britischen "Independent",  "mailten uns dann Leute an und fragten uns, wer wir denn seien. Darauf hatten wir nicht wirklich eine Antwort." Kaum gegründet, fand sich die Band in der irritierenden Situation wieder, noch nie live gespielt zu haben, aber schon mit der ersten Single "Go Outside" als "Best New Track" beim maßgeblichen Online-Medium Pitchfork gefeiert zu werden. Ihre Konsequenz: Sie spielte ihre ersten Konzerte unter Pseudonym, um in Ruhe Live-Routine entwickeln zu können und nicht sofort am Erfolg der Singles gemessen zu werden.

So ändern sich mit dem beschleunigten Beschreiben und Benennen von Musik auch deren Produktionsbedingungen. Die digitale Unruhe sorgt dafür, dass Künstler und Genres immer weniger Zeit zugestanden bekommen, um sich zu entwickeln. Doch es sind nicht nur technisch-strukturelle Veränderungen, die dem Aufkommen von "nächsten großen Dingen" entgegenstehen. Es hat sich auch inhaltlich etwas verschoben, und zwar bei der Definition, was eigentlich guten Musikgeschmack ausmacht.

Beyoncé steht jetzt auf Indie

Den allerspätesten Wendepunkt dabei markierte das Jahr 2008, als sich Noel Gallagher von Oasis darüber beschwerte, dass Jay-Z als Headliner auf dem britischen Glastonbury-Festival auftreten sollte. "Glastonburys Tradition ist Gitarrenmusik. Ich will keinen HipHop bei Glastonbury. Das ist falsch." Damit stand Gallagher aber allein da. Für die Besucher des vermeintlichen Gitarrenmusik-Festivals waren die Genregrenzen längst gefallen, und sie feierten den HipHop-Star frenetisch.

Mehr denn je gilt heute, dass musikalisches Kennertum nicht allein das Durchdringen eines einzigen Genres bedeuten kann. Der Blick muss vielmehr zu allen Seiten offen sein, die Qualitäten des Doom-Metal von Sunn o))) müssen erkannt werden und genauso wie der düstere R'n'B von The Weeknd geschätzt werden. Diese Verschiebungen werden nicht nur von Fans und KritikerInnen gelebt, sie werden auch von KünstlerInnen vollzogen. Diese Bewegung nahm mit Kele Okereke von Bloc Party, dem ersten schwarzen Schwulen, der eine Indie-Rockband zum Mainstreamerfolg führte, neuen Schwung auf und hat nicht zuletzt dazu geführt, dass Solange Knowles ihre große Schwester Beyoncé auf Konzerte von Indie-Bands wie Grizzly Bear schleppt und selbst Songs mit der weißen Queer-Poptruppe of Montreal Songs aufnimmt.

Guter Musikgeschmack, das meinen nicht mehr nur kleine Kennerzirkel, gleicht heute einem Mosaik, dessen Qualität sich nur im gekonnten Arrangement seiner tausend Einzelteile erschließt. Große Flächen, will heißen: grobe Einteilungen wie Gitarrenrock oder HipHop, stören da nur. Dass der größte Star unserer Zeit Lady Gaga ist, fügt sich perfekt in dieses Bild hinein. Ihre Musik sowie ihr Styling und ihre Auftritte gleichen einer Website, die der Search Engine Optimisation, also der Suchmaschinen-Optimierung, unterzogen wurde: überall Schlagworte. Hier ein Halbsatz aus der Queer-Rhetorik, dort ein Saxofon-Solo aus dem Bruce-Springsteen-Repertoire.

Jenseits des Fragments lässt sich Pop heute nicht mehr denken. Das kann den Blick sehnsuchtsvoll in die Vergangenheit lenken, als die Risse noch nicht erkennbar waren. Oder einem mehr Gelassenheit mit der Gegenwart verleihen und das Fehlen eines nächsten großen Dings nicht als Bruch, sondern als Entwicklungsstufe des Pop verstehen lassen.

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