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Massenproteste in Israel Netanjahu drohen Neuwahlen

Das Volk marschiert, der Premier laviert: Benjamin Netanjahu tut wenig, um den Zorn der Demonstranten zu besänftigen. Das könnte ihn sein Amt kosten - denn viele Israelis machen ihn persönlich für die Misere im Land verantwortlich.
Premier Netanjahu: Seit 2003 der israelischen Wirtschaft seinen Stempel aufgedrückt

Premier Netanjahu: Seit 2003 der israelischen Wirtschaft seinen Stempel aufgedrückt

Foto: POOL/ REUTERS

Ein guter Plan sieht anders aus: Nachdem Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu sich am Wochenende genötigt sah, auf die Forderung Hunderttausender Demonstranten gegen soziale Ungerechtigkeit einzugehen, stellte er nun seine Idee zur Behebung der Misere vor. Danach soll ein Team aus 22 Experten ab sofort soziale Missstände in Israel untersuchen und Vorschläge machen, sie zu beenden.

Ende September sollen die Akademiker ihre Reformvorschläge dann einem aus 17 Ministern bestehenden Wirtschaftsrat vorlegen, der wiederum dann Ende Oktober dem Ministerpräsidenten Gesetzesentwürfe vorlegen soll. Irgendwann im November könnte Netanjahu in einem dritten Schritt die Entscheidungen fällen, die Israel aus der Krise helfen sollen - wenn er dann noch im Amt ist.

Denn Netanjahus Stuhl wackelt. Auch, weil er sich zur Lösung der Israel erschütternden Probleme für ein solch umständliches, wenig Erfolg versprechendes Prozedere entschieden hat. "Verzögerungstaktik" nennen das seine Gegner, und davon gibt es derzeit viele: Netanjahus Zustimmungswerte in Meinungsumfragen sind im freien Fall, zuletzt lagen sie bei nur noch etwa 30 Prozent.

Im Gegensatz dazu unterstützen 87 Prozent der Israelis die seit nunmehr einem Monat anschwellende Welle der Proteste. Auch im eigenen Lager bröckelt die Zustimmung zu dem "Bibi" genannten Regierungschef: 85 Prozent der Wähler seiner Likud-Partei sehen die Demonstrationen nach einer Umfrage des Fernsehsenders Channel 10 als gerechtfertigt an.

Knesset-Sprecher Reuven Rivlin prophezeite am Sonntag denn auch, die anhaltenden Proteste könnten zu baldigen Neuwahlen führen.

Grund für den wachsenden Unmut im Heiligen Land sind vordergründig die hohen Lebenshaltungskosten. Doch es ist vor allem das Gefühl, dass Israels Reichtum ungerecht verteilt wird, das die Menschen auf die Straße treibt. Israels Wirtschaft boomt - doch der Geldsegen kommt nur wenigen Hochbezahlten und aus politischen Gründen subventionierten Minderheiten zu Gute.

Jede fünfte Familie arm

In den vergangenen Jahren haben Israels neoliberale Regierungen die Steuern für Großverdiener gesenkt und gleichzeitig die Unterstützung für weniger Privilegierte gekürzt. Der Wert des Schekels sowie das Bruttoinlandsprodukt wuchsen in dieser Zeit beträchtlich, während die Schere zwischen Reich und Arm immer weiter auseinander klaffte.

Von allen 34 OECD-Staaten hat Israel eine der höchsten Armutsraten, jede fünfte Familie gilt als arm. Lebensmittel und Konsumgüter kosten oft das gleiche wie in Deutschland, der Durchschnittslohn ist aber etwa 40 Prozent niedriger als in Europa.

Viele Israelis machen Netanjahu persönlich für diese Missstände verantwortlich. Denn der Verfechter der freien, deregulierten Marktwirtschaft hat der israelischen Wirtschaft seit 2003 seinen Stempel aufgedrückt.

Erst diente er dem damaligen Ministerpräsidenten Ariel Scharon als Minister für Finanzen, vor zweieinhalb Jahren nahm er dann selbst die Rolle des Regierungschefs ein. Um sicherzustellen, dass er weiterhin die Weichen der Wirtschaftspolitik stellen können würde, machte er mit Juval Steinitz einen Vertrauten - manche sagen einen Handlanger - zu seinem Finanzminister.

Wofür Israel sein Geld ausgibt

Dass Netanjahu seit Beginn der Proteste versucht, Steinitz zum Sündenbock zu stempeln, empört selbst seine politischen Verbündeten. Die Schuldzuweisungen seien ein weiteres Zeichen für die mangelnde Ernsthaftigkeit, mit der "Bibi" der Krise begegnete, schrieb Mazal Mualem in der Zeitung "Maariv".

Doch selbst, wenn Netanjahu zum Befreiungsschlag ansetzten wollte: Mit seiner derzeitigen Regierungsmannschaft ist das kaum möglich. Der Ministerpräsident ist in der Koalition auf die Stimmen der rechtsnationalen und religiösen Parteien angewiesen. Nun sind es aber die Wähler dieser Parteien - jüdische Siedler und ultraorthodoxe Juden - deren Privilegien im Zuge einer großangelegten Reform gekürzt werden müssten.

Ihre Vertreter in der Regierung werden deshalb alles daran setzen, Änderungen des Status Quo zu verhindern: Netanjahu steckt in einer Zwickmühle. Schenkt er dem Ruf nach Veränderungen Gehör, kann ihn das seine Koalition kosten. Ignoriert er ihn, könnte es ihn sein Amt kosten.

Die Siedler, die Religiösen, die Besatzung palästinensischer Gebiete: Für sie wird das Geld ausgegeben, das Israel anderswo fehlt.

Wie viel Staatsgelder welcher Sektor verschlingt, ist derzeit Gegenstand hitziger Diskussionen. Ein Überblick:

Milliarden für die Besetzung des Westjordanlands

Die Kosten der israelischen Kontrolle des palästinensischen Westjordanlands zu schätzen, ist so rechnerisch schwierig wie politisch hochdiffizil: Besatzungskritische Experten gehen davon aus, dass Israel etwa 2,1 Milliarden Euro jährlich für zivile Belange im Westjordanland ausgibt, dazu kämen 4,2 Milliarden Kosten für Sicherheit und Militär. Befürworter der Besatzung argumentieren, dass das Westjordanland ein guter Absatzmarkt für israelische Produkte ist.

Gegner verweisen auf die seit der zweiten Intifada stark gestiegenen Kosten für die Sicherung des Gebiets. Während die Einnahmen aus dem Handel mit den Palästinensern an private Unternehmer flössen, müssten die hohen Kosten von allen Steuerzahlern getragen werden.

Millionen für die Siedlungspolitik

Etwa eine halbe Million jüdischer Siedler haben sich im palästinensischen Westjordanland und Ostjerusalem niedergelassen, viele mit großzügiger staatlicher Hilfe. So wurden in den 15 Jahren von 1994 bis 2009 die Hälfte allen Siedlungsbaus vom Staat initiiert und bezahlt. In Tel Aviv wurden im selben Zeitraum nur drei Prozent der Bauvorhaben staatlich gefördert.

Jüdische Hausbauer im Westjordanland erhalten zudem große Rabatte auf von Israel verwaltetes Bauland: In den meisten Siedlungen erlässt der Staat den Käufern zwischen 69 und 49 Prozent des Grundstückpreises.

Die israelische Friedensbewegung "Peace Now" schätzt, dass die Siedlungen Israel inzwischen 500 Millionen Euro im Jahr kosten. Allein für Schutzmaßnahmen für die etwa 200.000 jüdischen Siedler im arabischen Ostteil Jerusalems fallen 2011 etwa 14 Millionen Euro an.

Hinzu kämen unendlich viele kleine Ausgaben, die die Regierung geschickt in ihrem Budget verstecke, so "Peace Now". Zwei Millionen Euro für die Panzerung von Siedler-Bussen hier, ein neuer Siedler-Highway für 40 Millionen Euro da: So kämen die Unsummen zusammen, die die Siedlungspolitik den Staat jedes Jahr kostete.

Die teure Macht der Ultra-Orthodoxen

Etwa 50.000 ultraorthodoxe Männer in Israel widmen sich, statt zu arbeiten, Vollzeit dem Studium der heiligen Schriften. In der Altersgruppe von 30 bis 34 sind das 75 Prozent der streng Religiösen. Die geringe Beteiligung der Frommen am Arbeitsleben kostete den Staat 2009 nach einer Schätzung des Finanzministeriums etwa 800 Millionen Euro.

Die meisten Ultraorthodoxen leben von der Wohlfahrt und Kindergeld - wie viel Geld ihnen zukommt, wird von der Regierung verschleiert. Als bekannt wurde, dass im Haushalt 2011/2012 rund 21 Millionen Euro für den Unterhalt verheirateter Tora-Studenten vorgesehen waren, sorgte das unter säkularen Israelis für Empörung.

Trotz massiver Proteste wurde der Posten - unter anderem Namen - im Budget gelassen: Ein weiteres Indiz für die Macht der Ultras in Netanjahus Regierung.