Geschriebene und ungeschriebene Gesetze

Christopher Lauer

Christopher Lauer über den Einzug der Piratenpartei in das Berliner Stadtparlament, eine neue Politkultur, kostenlosen ÖPNV und Frauenquoten

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Christopher Lauer ist unter dem Eindruck der Bundestagswahl 2009 in die Piratenpartei eingetreten. Nun wird er für sie in das Berliner Abgeordnetenhaus einziehen.

Herr Lauer, die Piratenpartei hat in Berlin laut vorläufigem amtlichen Endergebnis bei der Wahl zum Abgeordnetenhaus am Sonntag 8,9 Prozent der Stimmen bekommen. Ich bin wahrscheinlich nicht der Erste, der Sie fragt: Waren Sie auf ein solches Ergebnis vorbereitet?

Christopher Lauer: Naja, so ein Ergebnis kann man ja tatsächlich nicht planen. Als wir Anfang des Jahres die Kandidatenliste für Berlin aufgestellt haben, sind wir davon ausgegangen, dass wir im Idealfall ein Ergebnis zwischen fünf und sechs Prozent erreichen werden. Deswegen war das Ergebnis am Sonntag natürlich schon überraschend. Wir haben uns aber schon darauf vorbereitet, dass wir ins Berliner Abgeordnetenhaus einziehen werden. Mit dieser Punktlandung konnte aber natürlich niemand rechnen.

Was war die erste Reaktion?

Christopher Lauer: Ich glaube, unseren Leuten ist jetzt sehr schnell bewusst geworden, was das für eine Verantwortung bedeutet. Jetzt hat niemand mehr die Möglichkeit, zu kneifen. Wenn jemand sein Mandat nicht wahrnehmen würde, würden wir den Sitz verlieren. Das ist eine Situation, die den Druck erhöht, im Abgeordnetenhaus vernünftige Arbeit zu leisten.

Wie wird aus einem Piraten ein Parlamentarier?

Christopher Lauer: Also, wir haben jetzt schon Angebote von, sagen wir mal, den Piraten zugeneigten Menschen bekommen, die über Erfahrungen im Abgeordnetenhaus verfügen. Die haben uns ganz offen gesagt: „Wenn Ihr wollt, dann setzten wir uns zusammen und reden über die Lage.“ Es gibt im Abgeordnetenhaus geschriebene und ungeschriebene Gesetze. Und da müssen wir uns nun einfach einarbeiten. Wie werden wir also zu Parlamentariern? Jetzt heißt es eben: lernen, lernen, lernen. Es gibt nun eine Reihe Hausaufgaben, die wir machen müssen. Bis zur konstituierenden Sitzung des Abgeordnetenhauses müssen wir die Basics draufhaben. Danach geht es dann darum, dass wir die Ausschüsse besetzen.

War dieses 8,9-Prozent-Ergebnis denn der speziellen politischen Lage in Berlin geschuldet oder lässt sich das auch in anderen Landesteilen wiederholen?

Christopher Lauer: Ich habe in diesem Jahr schon in mehreren Wahlkämpfen mitgearbeitet und sehe nach diesen Erfahrungen zwei Aspekte: Berlin hat zum einen natürlich ein paar ideale Bedingungen. Wir leben hier in einer Großstadt, in der auf einen Quadratkilometer im Schnitt 3.800 Menschen kommen. Diese Wähler kann ich viel leichter erreichen als etwa in Mecklenburg-Vorpommern, wo durchschnittlich 71 Menschen pro Quadratkilometer wohnen. Wenn man sich nun die Ergebnisse in Rostock ansieht, dann hatten wir dort auch fast fünf Prozent der Stimmen bekommen.

Das heißt, die Piraten müssen es schaffen, auch in anderen Landesteilen die Fläche abzudecken wie es uns hier in Berlin gelungen ist. Wichtig war auch das Auftreten der Piraten im Berliner Wahlkampf. Ohne überheblich klingen zu wollen, sehe ich da einen Unterschied. In den bisherigen Landtagswahlkämpfen, sind wir nach dem Motto aufgetreten: Wir sind eine Kleinpartei, bitte, bitte wählt uns. In Berlin waren wir da sehr viel selbstbewusster. Schon als wir die Plakate aufgehängt haben, haben wir uns gesagt: So, jetzt ziehen wir das durch! Wenn ich am Stand mit Leuten diskutiert habe, die meinten, uns nicht wählen zu können, dann habe ich das akzeptiert. Viele Wählerinnen und Wähler haben das gar nicht verstanden, weil sie meinten, dass wir sie umgarnen müssten.

Kurzum: Sie haben die im Wahlkampf übliche Anbiederung nicht mitgemacht.

Christopher Lauer: Nein.

"Das Thema Mindestlohn oder bedingungsloses Grundeinkommen ist auch ein Thema für die älteren Wähler"

Wenn wir uns nun die Analysen über die sogenannte Wählerwanderung ansehen dann wird klar, dass die Piratenpartei ihre Stimmen vor allem aus dem Lager der SPD, der Grünen und der Linkspartei bekommen hat. Wie sieht es aber etwa in konservativ dominierten Regionen wie Bayern oder Baden-Württemberg aus?

Christopher Lauer: In Baden-Württemberg hatten wir die interessante Situation, dass wir im Parlament vertreten gewesen wären, wenn es nach den Stimmen der 18- bis 35-Jährigen gegangen wäre. Das heißt, dass wir bei den jüngeren Wählern angekommen sind. In Berlin haben wir mit dem Slogan „Fragt mal eure Kinder, warum sie Piraten wählen“ bewusst die Wählerschaft über 35 Jahren angesprochen und sie zur Auseinandersetzung mit unseren Zielen aufgefordert. Das Thema Mindestlohn oder bedingungsloses Grundeinkommen ist auch ein Thema für die älteren Wähler. Was mich besonders gefreut hat, ist, dass über vier Prozent unserer Wähler über 60 sind. Ich habe an Ständen öfter gehört, dass wir selbst von Senioren gewählt werden, weil sie jüngere Leute ans Ruder lassen wollen.

Es war also kein Wahlerfolg, der nur auf eine witzige und kreative Kampagne aufgebaut hat?

Christopher Lauer: Der Witz und die Kreativität waren nötig, damit wir mit den uns zur Verfügung stehenden beschränkten Mitteln Leute erreichen können. In Berlin hatten wir nur 12.000 Plakate hängen, dennoch hatte anscheinend jeder das Gefühl, dass die ganze Stadt voll damit war.

Wie das?

Christopher Lauer: Wir haben unsere Plakate nicht an Hauptstraßen aufgehängt, sondern an Knotenpunkte, vor S-Bahnhöfe und vor Cafés etwa. Und wir hatten provokante Slogans wie etwa: „Warum hänge ich überhaupt hier? Ihr geht ja eh nicht wählen", ein Instant Classic. Das hat uns auch Medienaufmerksamkeit gesichert. So wird das in Zukunft auch in der Fläche laufen müssen.

Kommen wir zu inhaltlichen Fragen. Rot-Rot ist in Berlin Geschichte, Rot-Grün zeichnet sich ab, hätte allerdings nur eine knappe Mehrheit. Welche Bedingungen haben die Piraten in Berlin für die Duldung von Regierungsentscheidungen?

Christopher Lauer: Ehrlich gesagt sind das Punkte, über die wir nun intern einmal in Ruhe sprechen müssen.

"Durch die parlamentarischen Mittel, die wir jetzt haben, können wir bei den anderen die Daumenschrauben anziehen"

Die Grünen aber beharren auf den Stopp des Ausbaus der Autobahn 100. Was gibt es bei den Piraten?

Christopher Lauer: Den Ausbau der A 100 haben wir im Programm ja auch abgelehnt. Andersherum betrachtet: Wenn nun die SPD und die Grünen im Abgeordnetenhaus das Wahlalter auf 16 Jahre absenken wollen, stimmen wir dafür. Wir werden nicht gegen Anträge sein, nur weil sie von einer bestimmten Partei kommen. Wir predigen ja die ganze Zeit einen anderen Politikstil und dem müssen wir dann auch gerecht werden. Ich glaube, daran krankt das ganze parlamentarische System auch, an diesen sogenannten Fraktionszwängen, wegen derer dann auf einmal irrationale Entscheidungen getroffen werden. Wenn wir offensiv damit umgehen, können wir da einiges zum Positiven verändern.

Transparenz war ein wichtiges Stichwort in der Wahlkampagne der Piratenpartei. Gerade in Berlin hat es in den vergangenen Jahren immer wieder Konflikte um Geheimverträge gegeben. Prominentestes Beispiel sind die Wasserverträge. Wie werden Sie damit umgehen, wenn Sie zu solchen Verschlusssachen Zugang bekommen?

Christopher Lauer: Wir müssen zunächst relativ schnell herausfinden, über welche parlamentarischen Werkzeuge wir Zugang zu solchen Informationen bekommen können. Wenn wir keine Einsicht bekommen, ist es sehr wichtig, öffentlich zu dokumentieren, warum diese Einsicht nicht möglich ist. Dadurch können wir ja auch andere Parteien unter Druck setzen. Wir müssten dann öffentlich anprangern, dass es einem demokratisch gewählten Parlamentarier der Opposition, dessen Aufgabe es ist, die Verwaltung und die Regierung zu kontrollieren, nicht möglich ist, nachzuvollziehen, wie mit den Geldern der Bürger Berlins umgegangen wird. Dann müssen sich die Parteien erklären, die dieses Procedere verteidigen. Durch die parlamentarischen Mittel, die wir jetzt haben, können wir bei den anderen die Daumenschrauben anziehen.

In Berlin haben Sie eine Flatrate für den Öffentlichen Personennahverkehr (ÖPNV) gefordert. Wie soll das funktionieren?

Christopher Lauer: Nach den bekannten Daten finanziert sich der ÖPNV in Berlin mit 500 Millionen Euro durch den Verkauf von Fahrscheinen und etwa der gleiche Betrag wird an öffentlichen Geldern zugeschossen. Uns geht es darum, den ÖPNV gemeinschaftlich zu finanzieren. Eine freie Nutzung von Bahnen und Bussen wäre auch für den Tourismus sicherlich ein sehr positiver Aspekt. Und ich bin überzeugt davon, dass das finanzierbar ist, denn der ÖPNV wird ja schon jetzt von der Bevölkerung über Tickets und Steuergelder bezahlt. Uns geht es lediglich darum, die Kosten anders umzulegen. Für manche wird das eine geringe Mehrbelastung. Allerdings kann jeder dann auch jederzeit in ein öffentliches Verkehrsmittel einsteigen. Das führt zu viel mehr Mobilität. Hasselt in Belgien hat ein solches Modell. Einer der Effekte war, dass Senioren viel mehr Krankenhäuser besuchen und die Bevölkerung der Außenbereiche stärker in die Stadt strömt.

Im Parlament werde Sie nun Einblick in die Daten bekommen und eine entsprechende Initiative starten können. Wird es das erste konkrete Projekt der Piratenpartei in Berlin sein?

Christopher Lauer: Nachdem im Wahlkampf wegen dieses Vorschlags so auf uns rumgehackt und diese Idee als unfinanzierbar dargestellt wurde, wäre das eine große Genugtuung. Wir werden uns also in Ruhe hinsetzen, das Modell durchrechnen und ganz unaufgeregt darlegen. Was in dieser ganzen Debatte meiner Meinung nach bislang viel zu kurz gekommen ist, ist die Debatte um die sekundären Effekte: weniger Lärmbelastung, weniger Abgase, weniger Unfälle.

Stichpunkt Rumhacken im Wahlkampf. In Berlin hat es aus fast allen etablierten Parteien Angriffe auf die Piratenpartei gegeben. Wie werden sie mit dieser Haltung ihrer künftigen Parlamentskollegen weiter umgehen?

Christopher Lauer: Wissen Sie, ich bin normalerweise nicht so der Bibel zugetan. Aber ich denke, dass wir jesusmäßig die andere Backe hinhalten werden. Übrigens: Ich war neulich bei der Vorstellung einer Studie darüber, wie Jugendliche Politikersprache empfinden und verstehen. Was die Jugendlichen demnach am meisten aufregt – und das gilt wahrscheinlich auch für die Erwachsenen –, ist, dass Politiker sich ständig derart attackieren. Im Wahlkampf kann es durchaus ein paar Spitzen geben. Ich selbst habe ja eine offene Mail an Renate Künast von den Grünen verfasst und auch das war ja eine Retourkutsche. Aber für mich war es das Maximum an Bashing. Wir würden uns wirklich sehr positiv von den anderen Parteien abheben, wenn wir versuchen, die Kritik so sachlich wie möglich zu halten.

Natürlich wird es bei den Piraten aber auch Personalfragen geben. Sie sind einer der bekanntesten Köpfe der Piratenpartei. Sind Sie auch ein potenzieller Kandidat für die Bundestagswahl 2013?

Christopher Lauer: Das ist tatsächlich eine sehr interessante Frage. Aber durch die nun in Berlin entstandene besondere Situation stellt sich diese Frage der Bundestagswahl für mich im Moment nicht. Wir werden auf jeden Fall bei der Bundestagswahl antreten. Aber jetzt über den Auszug aus dem Abgeordnetenhaus zu spekulieren, scheint mir nicht angebracht. Wir haben ja nur die 15 Leute hier. Hätten wir 20 oder mehr, die nachrücken könnten, wäre das eine andere Lage. In der jetzigen Situation sehe ich das nicht.

Letzte Frage: Wo sind eigentlich die Piratinnen?

Christopher Lauer: Das wurden wir auch schon öfter gefragt und das ist natürlich unbefriedigend. Wir haben tatsächlich viele Frauen im Landesverband. In der Fraktion aber haben wir 93 Prozent Männer, die CDU hat rund 85 Prozent und die Grünen haben die geringste Männerquote mit 47 Prozent. Ich glaube also schon, dass dahin gehend ein Problembewusstsein bei uns da ist. Aber, und das habe ich in einem Interview auch schon gesagt, man muss den Piraten zum jetzigen Zeitpunkt eine eigene Lösung zugestehen. Wer nun auf der Liste stand, hat sich schlichtweg zur Kandidatur bereit erklärt.

Bislang habe ich es in der Piratenpartei so empfunden, dass Frauen, wenn sie kandidiert haben, auch ohne Quote schon einen Bonus hatten. Das geht übrigens selbst einigen Frauen auf den Geist. Wir müssen also eine Möglichkeit finden, die nicht über eine Quotierung funktioniert. Übrigens saß ich gestern im Taxi mit einem türkischstämmigen Taxifahrer. Der hat mich gefragt, warum wir keine türkischen oder arabischen Leute in unseren Reihen haben. Das sehe ich in einer Stadt wie Berlin auch als Problem. Wie gesagt: Das Problembewusstsein ist da, die Lösung wird angegangen.

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