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Debatte Essay: Was wären wir ohne ... Gene?

Alle Menschen sind nicht gleich

Man muss nicht Thilo Sarrazin heißen, um zu behaupten, dass der Mensch maßgeblich durch seine Gene bestimmt wird. Intelligenz wird zu großen Teilen vererbt. Was aber heißt das genau?

Es ist mir immer ein Rätsel gewesen, warum sich um die Mitte des 20. Jahrhunderts so viele Politiker und Sozialwissenschaftler an eine kurzlebige Zeitgeistlaune geklammert haben und seitdem verbissen an der Überzeugung festhalten, die unterschiedlichen intellektuellen Fähigkeiten und Charaktereigenschaften der Menschen könnten und dürften niemals etwas mit ihren Erbanlagen zu tun haben, jeder könnte zu jedem werden. Es steht nicht bei den Kirchenvätern, es steht nicht bei Marx, nicht bei Lenin, nicht bei Freud, nicht in den Statuten des BUND, nicht im Grundgesetz und nicht im Ethikkodex der Medien.

Es widerspricht jeder Alltagserfahrung, und die meisten Menschen dürften die Annahme, alle seien gleich begabt, aufgrund eigener Lebenserfahrung immer für ein frommes Märchen gehalten haben. Wo ein ehrwürdiges Dokument wie die amerikanische Unabhängigkeitserklärung von "Gleichheit" sprach ("all men are created equal"), meinte sie, dass vor Gott, dem Gesetz und den Institutionen des Staates kein Mensch Vorrechte genießen soll, aber nicht, dass alle gleich an Körpergestalt, Geistesgaben oder Besitz wären. Das Gebot der Gleichheit vor dem Gesetz hatte der junge Staat gerade darum so nötig, weil seine Einwohnerschaft unterschiedlicher zu werden versprach als die der Staaten Europas, aus denen sie kam.

Der Glaube an die Allmacht der Erziehung war immer eine naive Illusion. Zeit genug, zu beweisen, dass sich die Ungleichheit der Begabungen durch Erziehung ausgleichen lässt, hätte die Umwelttheorie gehabt. Den Beweis ist sie schuldig geblieben. Erziehung kann nur Korrekturen vornehmen, von denen nicht sicher ist, dass sie von Dauer sind.

Es ist so robust erwiesen, wie etwas in den Naturwissenschaften überhaupt erwiesen sein kann, dass die Unterschiede in der von IQ-Tests gemessenen Intelligenz bei Erwachsenen zu mindestens 60 bis 75, bei Kindern zu 40 Prozent auf Unterschiede im Genotyp zurückgehen. Wer etwas anderes behaupten wollte, hätte einen Berg von nahezu einhelliger Forschungsliteratur gegen sich. Die Streitfrage "Ob oder ob nicht" ist erledigt; es geht nur noch um die Feinheiten und die Implikationen der Befunde. Die Menschen werden sich mit der ungleichen Verteilung von Begabungen abfinden müssen. Vielleicht tröstet es sie ein wenig, dass es viel ungerechter zugeht, wo nicht die Natur, sondern allein die Gesellschaft die Vergünstigungen zuteilt. Die Intelligenz ist normal verteilt, ihre Verteilung bildet eine symmetrische Glockenkurve: Es gibt ebenso viele unter- wie überdurchschnittlich Intelligente, und zwei Drittel aller Menschen sind mittelintelligent.

Was die Gene vorbestimmen, ist kein fester IQ-Wert, sondern ein Potenzial: das Potenzial, aus und mit der Umwelt zu lernen, wie man analytisch denkt. Im Wechselspiel mit den verschiedensten Umweltgegebenheiten wird aus diesem Potenzial ein messbarer IQ. Sehr günstige Umstände erlauben seine volle Ausschöpfung, sehr ungünstige lassen es verkümmern. Der Intelligenzpegel, den jemand erreicht, ist stabil; soziale Umbrüche können ihm kaum mehr etwas anhaben, nur das Alter lässt ihn sinken. Lernen und Trainieren erhöhen die Intelligenz, aber nur in Grenzen. Das weite Spektrum der Umweltbedingungen, die heute in den Mittelschichten der Industriegesellschaften wirken, lässt einen Spielraum von 10 bis 20 IQ-Punkten. Dieser schrumpft während der Adoleszenz. Wie viel von einer in der Kindheit erzielten Intelligenzsteigerung bis ins Erwachsenenalter erhalten bleibt, ist eine offene Frage. Sehr viel scheint es nicht zu sein - aber auch eine geringe Verbesserung kann erhebliche Unterschiede im Schul- und Berufserfolg zur Folge haben.

Da in allen Menschenpopulationen alle Begabungsniveaus vorkommen, dürfte kein Mensch je aufgrund irgendeines Gruppendurchschnitts beurteilt werden, sondern immer nur als Individuum. Minderintelligenten sollten die glücklich mit höherer Intelligenz Ausgestatteten nicht mit der Mischung aus Mitleid und Verachtung begegnen, die heute gang und gäbe ist. Sie sind niemandes Opfer, genauso wenig wie Mindermusikalische oder Mindersportliche, ausgenommen jene, die außerhalb des "breiten Korridors des Normalen" aufwachsen mussten, denen zum Beispiel ein normaler Schulbesuch vorenthalten blieb.

Damit sie nicht marginalisiert werden, dürften vor allem die praktischen Berufe, mit denen sie wie in früheren Zeiten Lebensunterhalt und Anerkennung verdienen können, nicht in dem Maße wegrationalisiert werden, wie sie das in einigen erfolgreichen Volkswirtschaften wurden, wo die Bahnhöfe ohne Personal sind, es nur noch SB-Tankstellen gibt und ganze Kaufhausgeschosse von einer einzigen ahnungslosen Kassiererin "bedient" werden. Auch müssten die Intellektuellen ihre Einstellung zu den Minderintelligenten revidieren. Sie verdienen keine stumme Geringschätzung, sie sind nicht weniger wert. Analytische Intelligenz ist in der Industrie- und Wissensgesellschaft zwar von großem Nutzen, aber es gibt auch noch andere menschliche Qualitäten.

Über eines sollte man sich keiner Täuschung hingeben. Wenn alle die gleichen Schulen besuchten, nach den gleichen Methoden unterrichtet würden, die gleichen Stoffe lernten, würden alle vielleicht tatsächlich gleicher (obwohl viele entweder faul oder findig genug wären, ein solches Gleichheitsziel für sich selbst zu umgehen), aber nicht sehr viel gleicher, da ja der größte Teil der de facto vorhandenen Intelligenzunterschiede genbedingt ist und nicht für Optimierungsanstrengungen der Umwelt zur Verfügung steht.

Wo eine wesentliche Quelle von Umweltvarianz entfiele, nämlich alle Unterschiede, die auf Unterschiede in der Schulbildung zurückgehen, würde der Anteil der Umweltvarianz geringer und der der genetischen Varianz entsprechend größer. Würde allen Menschen von der Geburt bis ins Grab exakt die gleiche Umwelt aufgezwungen (sie würden es keine drei Stunden aushalten und von sich aus für Differenzierungen sorgen), so wären sämtliche verbliebenen Unterschiede genetischer Herkunft, und die Erblichkeit stiege gegen 100 Prozent. Es scheint ein Paradox zu sein, ist aber keines: Je gleicher die Menschen behandelt werden, umso sichtbarer treten ihre genetischen Unterschiede hervor.

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Das Individuum hat heutzutage eine schlechte Presse. Wir lebten im Massenzeitalter, heißt es, das Individuum sei tot. Tatsächlich werden wir lebenslang vorwiegend als Angehörige anonymer Kollektive angesprochen und behandelt: als Jungwähler, als Versicherungsnehmer, als Rentenanwärter, als Autofahrer, als Handynutzer. Auf der anderen Seite ist heute deutlicher denn je, dass jeder Mensch einzigartig ist; wir wissen, dass und warum es gar nicht anders sein kann. Kein individueller Genotyp ist dem anderen gleich (ausgenommen seinem eineiigen Zwilling), keiner bringt sein Leben in genau der gleichen Umwelt zu wie sein Nachbar, für kein Lebewesen ist die Umwelt so vielfältig wie für den Menschen. Homo sapiens ist eine Gattung der Ungleichen. Wir sollten diese Verschiedenheit nicht als Vorwurf und Handicap empfinden, sondern als einen wertvollen Besitz.

Wir können es uns leisten, denn auf der anderen Seite legt die Natur auch unsere elementare Ähnlichkeit fest. Die Invarianz des Menschen lässt sich nicht quantifizieren; sie bildet auch nicht den Gegenstand der Verhaltensgenetik. Sie definiert uns als Angehörige der Gattung Mensch. Sie hält die Menschheit zusammen. Gäbe es sie nicht, müssten wir unsere Übereinstimmungen aus der Umwelt lernen, so wäre die Menschheit längst in eine Reihe grundverschiedener Kulturen zerfallen, zwischen denen es keine Verständigung und kein Verständnis gäbe. Jeder Einzelne ist anders als sein Mitmensch, erkennt in ihm aber wie in sich selbst das Gattungswesen Mensch.

Im Übrigen rächt es sich immer, irgendeine Wahrheit unter den Teppich zu kehren. Nicht nur, weil Wahrheiten die Eigenschaft haben, zurückzukehren. Sondern weil es vieler Verrenkungen bedarf und viele Enttäuschungen mit sich bringt, ein Leben an einer Wahrheit vorbeizuorganisieren. Ich glaube, ein naturalistisches Menschenbild ist nicht nur das ehrlichere, sondern letztlich auch das menschenfreundlichere, weil es den Menschen nicht mehr abverlangt als das Mögliche.

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