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Studenten im Widerstand: "Wir waren wie versteinert"

Foto: Mario Wezel

Widerstand an DDR-Unis Wir wollten ein normales Studentenleben

Ihre Geschichten kennt fast niemand: In den fünfziger Jahren kämpften ostdeutsche Studenten für Demokratie. Sie verteilten Flugblätter und landeten im Arbeitslager. Ihr Anführer wurde in Moskau hingerichtet.
Von Wiebke Schönherr

Der alte Mann stellt Kaffee und Zitronenkuchen auf den Wohnzimmertisch. Er will von früher erzählen. Um ihn herum: Regale voll mit Büchern. In manchen steht auch seine eigene Geschichte: Siegfried Jenkner, verhaftet am 5. Oktober 1950 in Leipzig, Zwangsarbeit in Workuta. Jenkner und einige andere Studenten waren für etwas bestraft worden, was nur acht Jahre zuvor auch den Geschwistern Scholl im "Dritten Reich" zum Verhängnis geworden war: Sie hatten Flugblätter verteilt und für die Freiheit gekämpft.

Während fast jeder Deutsche vom Kampf der "Weißen Rose" gegen das Unrechtsregime der Nationalsozialisten weiß, kennt kaum jemand die Geschichte von Jenkner und den anderen Mitgliedern der "Belter-Gruppe". Sie beginnt im Herbst 1949 mit der Gründung der DDR. Blitzschnell wird ein strammes sozialistisches Regime etabliert, unter Stalins Einfluss. Alle Studenten müssen eine marxistisch-leninistische Grundvorlesung besuchen, in ihrer Freizeit sollen sie in Fabriken gehen und die Arbeiter vom Sozialismus überzeugen. Doch Jenkner und viele seiner Kommilitonen wollen sich ihre politische Haltung nicht vorschreiben lassen.

"Wir wollten ein normales Studentenleben führen", sagt Jenkner, 83. Er spricht mit klarer, nüchterner Stimme. An der Universität Hannover machte er Karriere als Politikprofessor. Mit seiner Frau zog er drei Kinder groß, acht Enkel kamen später dazu. Ein gutes Leben - dabei hatte ihm ein sowjetisches Militärtribunal Anfang 1951 seine Zukunft fast genommen.

"Wenn niemand zuhörte, konnte man vorsichtig reden"

Im Wintersemester 1949 schreibt sich der 19-jährige Jenkner an der Fakultät für Gesellschaftswissenschaften der Universität Leipzig ein. Zur selben Zeit beginnt dort ein junger Greifswalder sein Studium, Herbert Belter. In der Mensa laufen sich die beiden über den Weg. "Wenn niemand Drittes zuhörte, konnte man vorsichtig seinen Unmut äußern, und je nachdem wie der andere reagierte, konnte man weitergehen oder nicht", erzählt Jenkner. Schnell wird klar, wer linientreu denkt, wer schwankt und wer ein Oppositioneller ist. Belter ist einer, mit dem er reden kann.

Sie treffen sich regelmäßig und diskutieren, wie sie Widerstand leisten können. Im Sommer 1950 nehmen Belter, Jenkner und ein weiterer Kommilitone Kontakt zum Rias auf, dem amerikanischen Propagandasender in West-Berlin. Der Rias gibt ihnen Decknamen, fragt Berichte über das Studium in Leipzig an. Im Gegenzug bekommen sie Bücher und Zeitschriften, die keinen marxistisch-leninistischen Standpunkt vertreten. Belter verteilt sie an Kommilitonen. Es entsteht ein kleines Netzwerk, in dem die Bücher zirkulieren, elf Leute insgesamt. Was die jungen Männer verbindet, ist der Wunsch nach mehr Demokratie.

Im Oktober 1950 sollen die ersten Wahlen zur Volkskammer, dem Parlament der DDR, stattfinden. Doch statt freie Wahlen abzuhalten, drückt die Regierung eine fertige Kandidatenliste durch: Man kann nur mit "Ja" oder "Nein" stimmen. Jenkner, Belter und ihre Freunde wollen das nicht hinnehmen.

Der Rias unterstützt sie, druckt Flugblätter und schickt das Material über eine Tarnadresse an Belter. Anfang Oktober, wenige Tage vor der Wahl, hasten Belter, Jenkner, sein WG-Mitbewohner Werner Gumpel und ihr Kommilitone Helmut du Mênil durch die Vorlesungssäle ihrer Uni und verteilen Flugblätter "für freie Wahlen und das Recht auf freie Meinungsäußerung". Sie schieben sie in die Fächer unter den Tischen und legen kleine Stapel in den Gängen aus. Doch sie wollen ihren Protest auch hinaus auf die Straße tragen.

Plötzlich saßen sie in der Falle

In der Nacht vom 4. auf den 5. Oktober ziehen Belter und du Mênil durch Leipzig, kleben Flugblätter an Litfaßsäulen, werfen viele in Briefkästen. Auf dem Heimweg werden die Studenten von Volkspolizisten aufgegriffen, eine Routinekontrolle: Sie sollen nur ihre Ausweise zeigen. Doch die haben sie nicht dabei, sie müssen auf die Wache, wo sie durchsucht werden. Flugblätter tragen sie keine mehr bei sich, aber laut Polizeiprotokoll werden bei Belter zwei West-Mark und ein Brief aus West-Berlin entdeckt. Belter wird verhaftet. Du Mênil kommt frei und schafft es, in den Westen zu fliehen.

Am nächsten Tag finden Polizisten in Belters Wohnung Flugblätter und ein Notizbuch, in dem die Namen der Studenten stehen, die von ihm Bücher und teilweise auch Flugblätter bekommen haben. Nun sitzen sie alle in der Falle: Jenkner, Gumpel und sieben weitere. Noch am selben Tag werden sie verhaftet und an den sowjetischen Geheimdienst übergeben.

Doch die DDR-Regierung will nicht nur die zehn Leipziger loswerden. An allen ostdeutschen Universitäten regt sich Widerstand. Über 600 Studenten werden zwischen 1945 und 1955 verurteilt, mindestens 24 von ihnen zum Tode. Die Brutalität, mit der gegen die intellektuelle Gefahr vorgegangen wird, zeigt schnell Wirkung. Ab Mitte der fünfziger Jahre ist der Widerstand an den DDR-Unis fast erloschen.

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Foto: Illustration: Simon Spilsbury

Ausgabe 2/2014

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Jenkner und die anderen neun sitzen drei Monate in Untersuchungshaft. Nächtelang werden sie verhört, tagsüber dürfen sie sich nicht hinsetzen, geschweige denn schlafen. "Ich habe mich beim Verhör krampfhaft an meinem Stuhl festgehalten, um nicht umzukippen", erinnert sich Jenkner. Die Sowjets unterstellen den Studenten, im Auftrag des Westens zu spionieren, dafür wollen sie Beweise. Doch was sollten die Studenten sagen? "Wir waren doch ein harmloser Haufen", sagt Jenkner.

Im Januar 1951 steht die Gruppe in Dresden vor dem Sowjetischen Militärtribunal. Jenkner und seine Kommilitonen werden zu einer "konterrevolutionären Gruppe" hochstilisiert, mit Belter als Anführer. In einer Reihe stehend, nehmen sie ihr Urteil entgegen. Belter als Erster: Tod durch Erschießen. "Wir waren wie versteinert", erzählt Jenkner. Die restlichen neun werden zu Lagerhaft zwischen 10 und 25 Jahren verurteilt.

Mit dem Zug werden die Häftlinge in die Sowjetunion gebracht, ohne dass ihre Eltern unterrichtet werden. Auch Belter befindet sich im Zug, er ist im Nachbarabteil. Jenkner und die anderen erkennen ihn an seiner Stimme. Belter fährt aber nur bis nach Moskau, wo er Ende April 1951 erschossen wird.

Die anderen Verurteilten werden weiter gen Osten transportiert, bis nach Workuta, nahe dem Eismeer. Dort sollen sie die nächsten Jahrzehnte Zwangsarbeit leisten, bei bis zu 40 Grad unter null. Die Häftlinge heben mit Spitzhacke und Schaufel Löcher für Gebäudefundamente aus, auch bei eisigen Schneestürmen, wenn der Boden gefroren ist. Zweimal am Tag gibt es Krautsuppe mit etwas Öl und Brot und eine Schüssel Getreidebrei. Wer nicht genug arbeitet, wird mit Essenentzug bestraft. Die Studenten magern völlig ab.

Nach vier Jahren sieht er seine Eltern wieder

Zwei Jahre später, 1953, stirbt Stalin. Sein Nachfolger Chruschtschow will die Beziehungen zum Westen entspannen. Nun wird das Leben im Lager besser. Es gibt mehr zu essen, und die Studenten müssen nicht mehr so hart arbeiten. Noch im selben Jahr wird bei einer ersten Amnestie die Hälfte der Belter-Gruppe entlassen. Erst jetzt erfahren die ahnungslosen Eltern, was überhaupt mit ihren Söhnen passiert ist. Die Polizei hatte alle Nachfragen abgeblockt. Zwei Jahre später folgt die nächste Amnestie. Nun kommen auch die anderen frei, unter ihnen ist Jenkner. Er darf nach Westdeutschland ausreisen. Ein halbes Jahr später schließen ihn seine Eltern in West-Berlin nach über vier Jahren erstmals wieder in die Arme.

An der Hochschule Wilhelmshaven schreibt sich der mittlerweile 25-Jährige für Sozialwissenschaften ein. Er erholt sich vom Leid der letzten Jahre, auch weil andere Ostdeutsche, die im Lager waren, dort studieren. Mit ihnen kann er reden. Jenkner erlebt jetzt doch noch das freie Studentenleben.

Nach vier Stunden ist der Zitronenkuchen auf dem Wohnzimmertisch aufgegessen. Jenkner spricht noch immer so konzentriert wie in der ersten Minute. "Ich fühle mich dazu verpflichtet, das zu erzählen", erklärt er. "Es kann sich ja heute niemand mehr vorstellen, wie das damals war." Als er schon vom Tisch aufgestanden ist, will er den Studenten von heute noch etwas mitgeben: "Sie sollen das eigene Denken nicht aufgeben. Sie sollen kritisch sein!"

"Ein Ossi ist kein Ossi"
Foto: DPA

Lange Zeit sah sie sich einfach als Deutsche, dann zog sie zum Studium nach Bayern. Und plötzlich war sie der Ossi, der nur ekelige Biermischgetränke trinkt und Bananen allenfalls vom Hörensagen kennt - 23 Jahre nach der Einheit. Wann, fragt sie sich, hört das endlich auf? mehr...