Großbritannien: Rote Karte für zu viel EU-Politik

Britain´s Prime Minister David Cameron delivers a speech to placard waving Conservatives during an European election campaign rally at a science park in Bristol
Britain´s Prime Minister David Cameron delivers a speech to placard waving Conservatives during an European election campaign rally at a science park in Bristol(c) REUTERS (ANDREW WINNING)
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Der Thinktank Open Europe attestiert den EU-Spitzenkandidaten „mangelhafte Qualität“, die Regierung in London will mehr Macht für das eigene Parlament.

Brüssel. Für einen Vollblutpolitiker gibt es wohl keine größere Schmach als die öffentliche Aberkennung jeglicher Relevanz. Genau dieses Schicksal ist nun allen Spitzenkandidaten für die Europawahl am 25. Mai widerfahren – und gefällt wird dieses harsche Urteil von der EU-kritischen britischen Ideenschmiede Open Europe, die am gestrigen Mittwoch einen Report zur Lage in den europäischen Institutionen am Vorabend des Votums veröffentlicht hat. Die ersten, aber beileibe nicht einzigen Opfer dieser Vermessung sind Jean-Claude Juncker, Martin Schulz, Guy Verhofstadt und Co. „Das Konzept der europäischen Spitzenkandidaten dürfte sich aufgrund der fragmentierten politischen Landschaft innerhalb der EU und der mangelhaften Qualität der Kandidaten selbst als kontraproduktiv erweisen“, heißt es in dem Bericht – freilich ohne genauer auf die nicht erfüllten Qualitätsansprüche einzugehen. Nur so viel: Alle Spitzenkandidaten seien „Verfechter weiterer europäischer Integration, die zu einem Demokratiedefizit“ in der EU geführt habe.

Aufgrund der Tatsache, dass Open Europe inhaltlich eher auf Linie des EU-kritischen Flügels der regierenden Tory-Partei ist, war ein forscher Ton zu erwarten. Doch für die Autoren der Studie stellt der Verriss der Wahlkämpfer nur den Ausgangspunkt dar. Das strategische Ziel Großbritanniens liegt für sie darin, die Kompetenzen des Europaparlaments zu beschneiden – angesichts der bereits erwähnten Kritik am europäischen Demokratiedefizit eine auf den ersten Blick rätselhafte Forderung, ist doch das EU-Parlament die einzige direkt gewählte Institution der Union.

„Künstliches Experiment“

Das Rätsel löst sich allerdings rasch auf, denn unter Demokratie versteht Open Europe ausschließlich nationale Demokratie und nicht das „künstliche Experiment“ namens Europaparlament. Als erste Konsequenz daraus fordert der Thinktank, den Europaabgeordneten das Recht auf Mitsprache beim EU-Budget und auf die Einlegung eines Einspruchs bei Freihandelsabkommen zu streichen – die EU-Kommission hat als einzige Institution die Befugnis, im Namen der Unionsmitglieder über Freihandel zu verhandeln, Parlament und Rat müssen dem Verhandlungsergebnis allerdings anschließend zustimmen. Der unmittelbare Anlass für diese Forderung dürfte wohl die parlamentarische Kritik an den Verhandlungen über die Schaffung einer transatlantischen Freihandelszone, TTIP, gewesen sein.

Als Gegenentwurf skizzieren die Studienautoren ein Europa der Hauptstädte, in dem nationale Parlamente das Sagen haben. So fordert Open Europe unter anderem die Einführung einer Roten Karte – mit dem Instrument soll es den nationalen Parlamenten ermöglicht werden, sich zu gruppieren, um EU-Gesetzesvorschläge zu blockieren, bestehendes Recht umzugestalten und das Europaparlament in die Schranken zu weisen. Ein weiteres Mittel zur Disziplinierung der Europaabgeordneten ist demnach eine Reform ihrer Diäten und Bezüge – um „Missbrauch“ vorzubeugen. Und zu guter Letzt wünscht sich Open Europe die Streichung des Budgetpostens für den Aufbau einer gemeinsamen politischen Identität in der EU, der im Jahr 2012 85 Mio. Euro ausgemacht haben soll.

„Wettbewerbsfähigkeit“ und „Fairness“

Der Wunsch nach der Roten Karte findet sich auch auf der offiziellen Wunschliste des britischen Premierministers David Cameron. Sein für Europafragen zuständiger Staatssekretär, David Lidington, weilte am Dienstag in Brüssel, um die britischen Prioritäten für die nächste EU-Kommission zu präsentieren. Allen voran zählt dazu die Stärkung der „demokratischen Legitimierung“, also eine stärkere Einbindung der nationalen Parlamente ins europäische Tagesgeschäft – derzeit ist der Rat jenes Gremium, in dem nationale Interessen zum Ausdruck gebracht werden. Es sei „ein Faktum, dass sich die Wähler mehr mit ihren nationalen Regierungen und Abgeordneten identifizieren“, so Lidington. Die weiteren britischen Vorgaben für Brüssel lauten „Wettbewerbsfähigkeit“ (Ja zu TTIP), „freier Personenverkehr“ (nicht für Sozialhilfeempfänger) und „Fairness“ (kein Überstimmen Londons durch die Mitglieder der Eurozone).

Cameron hat sich dazu verpflichtet, ein Referendum über die EU-Mitgliedschaft Großbritanniens abzuhalten, falls er die Parlamentswahl 2015 gewinnen sollte.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 15.05.2014)

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