Gastkommentar

«Millennial socialism»: die Pandemie als Durchlauferhitzer für einen Systemwechsel

Durch die Corona-Krise wird die Systemfrage erneut gestellt. Es wird das Ende einer Welt bedeuten, wie wir sie kannten. Wer stellt sich diesem kollektiven Wahnsinn entgegen?

Milosz Matuschek
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Das Mindset vieler Millennials ist oft ein etatistisches, dirigistisches, monotones. Das Bild zeigt zwei Frauen am Times Square in New York.

Das Mindset vieler Millennials ist oft ein etatistisches, dirigistisches, monotones. Das Bild zeigt zwei Frauen am Times Square in New York.

Mark Lennihan / AP

«Wenn der Kapitalismus so gut funktioniert, warum muss er dann alle zehn Jahre vom Sozialismus gerettet werden?» Es sind Sätze wie diese auf Twitter und anderswo, die derzeit viel Beifall finden, gerade bei den Jungen der Generationen Y und Z, also den etwa ab 1980 bzw. 2000 Geborenen. Die fatale Logik lautet: Je mehr ein nachweislich funktionierendes System (Marktwirtschaft) gerade bewusst an die Wand gefahren wird, desto eher wird uns ein nachweislich nicht funktionierendes System (Sozialismus) aus der Misere helfen. Political Correctness, inflationäre Geldpolitik, angeblich alternativlose Green New Deals und das bedingungslose Grundeinkommen sind die bereits sichtbaren apokalyptischen Reiter einer epochalen Zäsur. Doch es kommt mehr. Die Corona-Krise erweist sich als Durchlauferhitzer für einen Systemwechsel.

Die Systemfrage ist eine Generationenfrage

Das Mindset vieler Millennials, die in Szenecafés vor grossen Kaffeetassen und kleinen Bildschirmen hängen, ist nur vordergründig ein freies, permissives, diverses – oft ist es ein etatistisches, dirigistisches, monotones. Die Verstaatlichung des Finanzsektors zum Beispiel ist für Grace Blakeley, eine 26-jährige Vordenkerin dieser Bewegung, das Mindeste, idealerweise verbunden mit einem neuen, grün-feministischen Klassenbewusstsein. Für Klima, Minderheitenrechte oder die Enteignung von Immobilienfirmen wären sie wohl auch bereit, die Demokratie zu opfern, die sie ohnehin kritischer sehen als frühere Generationen. Denn wozu noch abstimmen, wenn man selber zu den «99 Prozent» gehört und auch noch zu 100 Prozent recht hat? «Das ist nicht links, das ist logisch!», lautet das Mantra der Selbstvergewisserung. Diskussionen stören eher. Die «millennial socialists» sind die neuen Extremisten der Mitte, die Jihadisten des Mainstreams.

Die Gründe für diesen Schwenk sind auf den ersten Blick nachvollziehbar, nämlich Verlustangst sowie eine Wut über verringerte Chancen. Die Millennials sind die Generation, die mit dem Dotcom-Crash, der Finanzkrise von 2008 und jetzt mit Corona in zwanzig Jahren gleich drei einschneidende Krisen erlebt hat. Die «millennial socialists» sind die Wutbürger im Wartestand, das Produkt von Krisen, aber auch von pädagogischer Verhätschelung und All-inclusive-Mentalität. Nach dem Durchlaufen eines egalitären Bildungssystems sind sie davon überzeugt, dass vor allem sofortige kreative Umverteilung von zukünftiger Wirtschaftsleistung das Problem lösen kann. Das haben sie auch von ihren Eltern so gelernt, welche eher glaubten, die Welt auf ihre Kinder vorbereiten zu müssen als umgekehrt: Schuld sind immer die anderen; Probleme lassen sich endlos aufschieben. Es zählt nicht, wer inhaltlich recht hat, sondern wer das beste moralische Framing hinbekommt. Es sind also genau diejenigen, die in der Klimadebatte bei dem Satz «Wir haben die Erde von unseren Kindern nur geliehen» feuchte Augen bekommen, die ihren eigenen Kindern mit einer gnadenlosen Nonchalance ein Schuldenjoch um den Hals legen und ihnen damit die Zukunft stehlen.

Eine epochale Weggabelung steht bevor

Eine ganze Generation durchläuft gerade eine grössere Sinnkrise, den «millennihilism». Viele erkennen, dass Institutionen und Autoritäten die einst gemachten Versprechungen vom besseren Leben nicht einhalten konnten. Das ist schlimm, doch die psychologische Reaktion darauf ist noch viel fataler. In Zeiten der Krise ruft man nach dem Bail-out für alle, nach Versorgung, Umverteilung und Bevormundung. Anstatt die gegenwärtige Herausforderung anzunehmen, legt man die Hände in den Schoss. «Bullshit-Jobs» (David Graeber) waren gestern – morgen kann man sich per Grundeinkommen das Hobby von der Allgemeinheit alimentieren lassen. Das verstehen manche jetzt unter «Krise als Chance». Wo gestern die Eltern helfend einsprangen, soll es nun die Allgemeinheit tun.

Der grosse Irrtum dieser Kämpfer für einen neuen Sozialismus liegt in der Analyse der Ausgangslage. Denn wir leben mitnichten in einem System entfesselter Märkte. Schon das Geldsystem ist gänzlich verstaatlicht. Ähnlich ist es im Bereich der Bildung, der Energie oder der sozialen Sicherung. Tatsächlich leben wir am ehesten in einem Semisozialismus, und zwar, um es mit Peter Sloterdijk zu sagen, einem «steuerstaatlich zugreifenden». Das Wesen des gegenwärtigen Systems zu beschreiben, ist dabei gar nicht so einfach, mindestens drei Elemente sind erkennbar: eine «totalitäre Demokratie» (Jacob L. Talmon), die offizielle Wahrheiten kennt, ein «crony care capitalism», also ein mit Grosskonzernen verfilzter Staatskorporatismus, und ein das Denken verkleisternder Kultur-Neomarxismus in Bildung, Kunstbetrieb, Sprache und Medien.

«Woke» nennen sich gerade die Millennials, die erkannt haben, wie man auf dem Rücken dieses Monsters am besten reitet. Viele tun es mit den besten Absichten und edelsten Zielen. Doch die «eierlegende Wollmilchsau», die sie gerade züchten, kann nur geben, was sie anderen weggenommen hat. Ihre Macht ist endlich, denn sie kannibalisiert sich irgendwann selber.

Milosz Matuschek ist stellvertretender Chefredaktor des «Schweizer Monats» und schreibt regelmässig für die NZZ Kolumnen. Zuletzt veröffentlichte er «Kryptopia» und «Generation Chillstand».