Von der Lichtgestalt zum Kriegsherrn: Abiy Ahmed wollte ein neues Äthiopien schaffen – doch dann kam alles anders

Äthiopien wählt erstmals seit 2015. Der Gewinner steht so gut wie fest: Ministerpräsident Abiy Ahmed. Der einstige Hoffnungsträger führt inzwischen einen Krieg, den manche einen Genozid nennen.

Samuel Misteli
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Glaubte schon als Kind, zum Führen Äthiopiens bestimmt zu sein: Ministerpräsident Abiy Ahmed – hier an einer Wahlkampfveranstaltung in der Region Oromia.

Glaubte schon als Kind, zum Führen Äthiopiens bestimmt zu sein: Ministerpräsident Abiy Ahmed – hier an einer Wahlkampfveranstaltung in der Region Oromia.

Mulugeta Ayene / AP

Im Februar 2019 empfing der Mann, der ein neues Äthiopien schaffen wollte, zwei britische Journalisten in seiner Residenz in Addis Abeba. Es war sein erstes persönliches Interview mit der internationalen Presse, und Abiy Ahmed hatte keinen Grund für Selbstzweifel. Er sagte: «Ich habe viele grossartige Dinge erreicht verglichen mit anderen politischen Führern. Doch ich habe noch nicht einmal ein Prozent dessen erreicht, wovon ich träume.»

Abiy Ahmed war zu dem Zeitpunkt 42 und weniger als ein Jahr im Amt. Er hatte Zehntausende politische Gefangene freigelassen, er hatte verbotene oppositionelle Organisationen wieder zugelassen und die Hälfte seines Kabinetts mit Frauen besetzt. Vor allem hatte er Frieden mit dem Nachbarland Eritrea geschlossen und so einen zwei Jahrzehnte alten Grenzkonflikt beendet, der Zehntausende das Leben gekostet hatte. Dafür erhielt er den Friedensnobelpreis.

Die Geschichte hatte biblische Züge, dem tief religiösen Abiy musste das gefallen: Ein zuvor weitgehend unbekannter Politiker war an die Regierungsspitze gerückt und hatte Äthiopien, einem verkrusteten, autoritären Staat, das Licht gebracht.

So schien es zumindest.

Am Montag hält Äthiopien nationale und regionale Wahlen ab, es sind die ersten seit 2015. Sie finden in einem Land statt, in dem wenig an den Morgen erinnert, der 2018 angebrochen war. Oppositionelle sitzen im Gefängnis, Journalisten werden mit dem Tod bedroht. An vielen Orten im Land tragen bewaffnete Gruppen Konflikte aus, den schlimmsten in der Region Tigray im Norden des Landes. Dort finden ethnische Säuberungen statt, manche Experten sprechen von Genozid. Laut der Uno sind zudem 350 000 Menschen vom Hungertod bedroht. Es ist eine Hungersnot, wie es sie in Äthiopien seit den 1980er Jahren nicht mehr gegeben hat.

Was ist passiert? Und was hat das mit dem Ministerpräsidenten zu tun, der noch vor zwei Jahren als Lichtgestalt galt?

Im Dienst des Regimes

Vielleicht war das Licht, das Abiy Ahmed gebracht hatte, so hell, dass es blendete. «Abiy war nie ein Demokrat, er war sein ganzes Leben lang Teil des Regimes», sagt Kjetil Tronvoll. Der norwegische Konfliktforscher gilt international als einer der besten Kenner der äthiopischen Politik. Er sagt: «Es war naiv, anzunehmen, dass eine solche Person sich selber und das System über Nacht ändern würde.»

Tatsächlich hatte Abiy sein ganzes Erwachsenenleben lang dem äthiopischen Regime gedient, in verschiedenen Funktionen: In den 1990er Jahren war er Soldat, stieg auf zum Oberstleutnant; später gründete und leitete er die staatliche Internetkontrollbehörde; 2010 wurde er ins Parlament gewählt, 2015 zum Minister für Wissenschaft und Technologie ernannt. Drei Jahre später kam er ganz oben an.

Dass ihn die damalige De-facto-Staatspartei EPRDF (Ethiopian People’s Revolutionary Democratic Front) zum Ministerpräsidenten bestimmte, hatte viel mit seiner Herkunft zu tun: Abiy kommt aus Oromia, der grössten und bevölkerungsreichsten Region des Landes. Die Oromo stellen ein Drittel der 110 Millionen Äthiopierinnen und Äthiopier, viele von ihnen fühlen sich benachteiligt – vor allem gegenüber den Tigrinern, die die nationale Politik vor Abiys Machtübernahme während dreier Jahrzehnte dominiert hatten. Nach der Wahl 2015, als die EPRDF sämtliche Sitze im Parlament gewonnen hatte, führten junge Oromo eine Protestbewegung an, die schliesslich erreichte, dass die EPRDF den farblosen Ministerpräsidenten Hailemariam Desalegn fallen liess.

An seine Stelle setzte die Partei Abiy Ahmed, er war der erste Oromo in dieser Position. Die Wahl überraschte viele. Nicht aber Abiy selber.

Mann auf Mission

Es heisst, Abiy Ahmed sei schon als Kind überzeugt gewesen, dass er Äthiopien dereinst führen werde. Später vermengte er die Machtphantasie mit seinem christlichem Glauben: «Abiy glaubt, auf einer göttlichen Mission zu sein», sagt der Konfliktforscher Tronvoll. Abiy, der gerne die Bibel zitiert, meine das buchstäblich. Viele westliche Beobachter hätten diesen Zug nicht ernst genommen – im Gegensatz zu den meist tief religiösen Äthiopiern, die sich vom Sendungsbewusstsein des Ministerpäsidenten nicht irritieren liessen.

Abiy begann die Mission als Ministerpräsident mit den grossen Reformgesten. Als er dem eritreischen Diktator Isaias Afewerki die Hand zum Frieden reichte, war er gerade einmal drei Monate im Amt. Abiy reiste durch Äthiopien, er verkündete, die mehr als 80 ethnischen Gruppen im Land unter seiner panäthiopischen Vision zu vereinen, gleichzeitig aber die Vielfalt zelebrieren zu wollen. Er entwarf die politische Philosophie dazu, sie hiess «Medemer» (sinngemäss: zusammenkommen).

Doch der Eifer des Erneuerers, zu dessen grössten Bewunderern westliche Diplomaten gehörten, überdeckte alte und neue Probleme. Abiy hatte ein Land übernommen, das seit den 1990er Jahren als Entwicklungsdiktatur nach chinesischem Vorbild funktioniert hatte. Es war eine erfolgreiche Entwicklungsdiktatur – das Pro-Kopf-Einkommen hatte sich vervielfacht, Äthiopien war mit jährlichen Wachstumsraten von mehr als 10 Prozent eine der am schnellsten wachsenden Volkswirtschaften der Welt. Doch die Entwicklungsstatistiken kaschierten ein fragiles politisches System, in dem die meisten Akteure sich zuerst ihrer Ethnie verpflichtet fühlen und dem Zentralstaat skeptisch bis feindselig begegnen.

Auch Abiys «Medemer»-Philosophie widerstand den Fliehkräften nicht. Viele Oromo fühlten sich von ihm verraten, sie hatten sich einen Interessenvertreter gewünscht, keinen panäthiopischen Nationalisten. Anderswo führte die neue Meinungsäusserungsfreiheit dazu, dass die ethnischen Rangeleien heftiger wurden und in Gewalt umschlugen. Während der Ministerpräsident seine nationale Vision predigte, flüchteten Hunderttausende seiner Landsleute vor wieder aufgebrochenen Konflikten.

Der schwerste von allen verschärfte sich jäh, kurz nachdem Abiy im Dezember 2019 den Friedensnobelpreis abgeholt hatte. «Krieg ist die Hölle», sagte er bei seiner Rede in Oslo. Zwei Tage nach seiner Rückkehr löste Abiy die Regierungspartei EPRDF auf – und bereitete damit den Boden für den Krieg in Tigray. Dieser brach elf Monate später los.

Die Hölle in Tigray

Die EPRDF war bis dahin eine Koalition von vier regionalen Parteien gewesen – aus Tigray, Amhara, Oromia und der multiethnischen Southern Region. Die Tigray People’s Liberation Front (TPLF) hatte die Koalition ab 1991, als das kommunistische Derg-Regime fiel, dominiert. Abiy entfernte die Tigray-Fraktion nach seiner Machtübernahme aus wichtigen Positionen in der Politik, im Militär und in den Geheimdiensten. Als Abiy aus Oslo zurückkam und die EPRDF auflöste, forderte er die Koalitionspartner auf, sich aufzulösen und seiner neu gegründeten Prosperity Party anzuschliessen. Diese sollte künftig seine nationalistische Vision transportieren, die quer zum bisher praktizierten ethnischen Föderalismus stand.

Die TPLF lehnte es ab, in der neuen Partei aufzugehen, und zog sich in ihre Herkunftsregion zurück. Die meisten Experten sind sich einig, dass die Zeichen ab da auf Krieg standen. Kjetil Tronvoll nennt den Tigray-Krieg gar den «bestangekündigten Krieg in der afrikanischen Geschichte».

Der Krieg ging schliesslich am 4. November 2020 los, als die Welt nach Amerika blickte, wo sich ein Wahldrama zwischen dem Amtsinhaber und seinem Herausforderer abspielte. In Tigray begann, was Ministerpräsident Abiy eine «Strafaktion» nannte. Sie richtete sich gegen tigrinische Truppen, die zuvor Basen der nationalen Armee angegriffen hatten.

Der Tigray-Krieg, der inzwischen in seinem achten Monat angelangt ist, wurde tatsächlich zur Hölle, von der Abiy in Oslo gesprochen hatte. Obwohl die äthiopische Regierung den Zugang für Journalisten fast verunmöglicht und selbst Hilfsorganisationen nur sehr eingeschränkt arbeiten können, dringen immer neue Schreckensmeldungen nach aussen. Uno-Mitarbeiter zählten über 500 Vergewaltigungsopfer; es dürften viele mehr sein. Der amerikanische Aussenminister Antony Blinken sagte, im Westen Tigrays fänden «ethnische Säuberungen» statt; Bauern werden beispielsweise daran gehindert, auszusäen, womit ihnen die Lebensgrundlage entzogen wird. Eritreische Truppen, die Abiys Armee unterstützen und Hunderte – vermutlich eher Tausende – von Zivilisten massakriert haben, sind noch immer nicht abgezogen. Und in den nächsten Monaten werden mit grösster Wahrscheinlichkeit Tausende von Menschen verhungern.

Die Wahl vom Montag findet in Tigray nicht statt. Sie soll zu einem späteren Zeitpunkt nachgeholt werden. Wann, weiss niemand.

Ein Land am Abgrund

Der Ministerpräsident, der glaubte, Äthiopien einen zu können, regiert inzwischen ein Land, das auseinanderzubrechen droht. Abiy regiert es wieder wie seine Vorgänger, die versuchten, die ethnischen und regionalen Fliehkräfte durch Repression zu kontrollieren. So sitzen etwa die wichtigsten politischen Führer der Oromo seit einem Jahr im Gefängnis. Zu den Problemen im Innern kommen äussere: Der Tigray-Krieg hat einen Grenzkonflikt mit dem Sudan so weit angeheizt, dass ein weiterer Krieg droht. Und die Spannungen mit den Nil-Staaten Sudan und Ägypten wegen Äthiopiens wichtigstem Infrastrukturprojekt, dem Grand Ethiopian Renaissance Dam, haben sich unter Abiy weiter verschärft.

Wie konnte es so weit kommen? Viele Experten glauben, dass die Antwort viel mit Abiys Person zu tun hat. Kjetil Tronvoll gehört zu ihnen. Er sagt: «Abiy glaubt, weit grössere analytische Fähigkeiten zu haben, als er tatsächlich besitzt. Zudem ist er stark darauf bedacht, der Chef zu sein.» Die an Narzissmus grenzende Selbstüberschätzung mache Abiy gefährlich. Tronvoll ist auch überzeugt, dass der Friedensnobelpreis, der Abiy auch international zur Lichtgestalt machte, den Ministerpräsidenten in seiner Hybris noch bestärkte.

Die Wahl vom Montag dürfte wenig dazu beitragen, Abiy zu bremsen. Sie hätte ursprünglich im August 2020 stattfinden sollen, die Regierung verschob sie aber mit Verweis auf die Corona-Pandemie – was die Spannungen im Land zusätzlich verschärfte. Abiy hat angekündigt, dies sei Äthiopiens erster Versuch, freie und faire Wahlen abzuhalten. Der Politikwissenschafter Yohannes Woldemariam dagegen sagt: «Es ist eine Pseudo-Wahl, wie sie afrikanische Autokraten abhalten, um sich Legitimität zu verschaffen.»

Tatsächlich erinnert vieles an vergangene Wahlen. Die beiden wichtigsten Oppositionsparteien in Oromia haben vor Monaten angekündigt, nicht teilzunehmen, weil ihre Anführer im Gefängnis sitzen. Die EU verzichtete darauf, Wahlbeobachter zu schicken, weil sie sich mit der äthiopischen Regierung nicht auf die Bedingungen einigen konnte. In 110 von 547 Wahlbezirken wurde die Wahl auf später verschoben, weil die Sicherheitslage keinen Urnengang erlaubt oder logistische Probleme auftraten.

37 Millionen Äthiopierinnen und Äthiopier haben sich für die Wahl registrieren lassen. Sie werden Abiys Prosperity Party mit grosser Sicherheit einen Sieg bescheren. Die Opposition besteht fast ausschliesslich aus kleinen ethnischen Parteien. Abiy Ahmed wird die Legitimität an der Urne erhalten, die ihm bisher noch fehlte.

«Äthiopien braucht keine Wahl, der Staat braucht einen nationalen Dialog», sagt der Politologe Woldemariam. So denken viele. Doch es gibt keine Anzeichen dafür, dass der Mann, der glaubt, zum Führer Äthiopiens bestimmt zu sein, demnächst Anlass zu Demut sieht.