Plötzlicher Herzstillstand: Laienhelfer könnten jährlich 70 Menschenleben retten – doch im Kanton Zürich ist man skeptisch

Bei einem Herzstillstand entscheiden Minuten über Leben und Tod. Weil Laienhelfer schneller vor Ort sind, fordern Experten deren Einsatz. Im Kanton Zürich bisher ohne Erfolg.

Jan Hudec
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Herzmassage will gelernt sein: Nur wer kräftig drückt, bewirkt auch etwas.

Herzmassage will gelernt sein: Nur wer kräftig drückt, bewirkt auch etwas.

Christian Beutler / Keystone

Es sind dramatische Szenen, die sich an jenem Donnerstagabend im März des Jahres 2014 abspielen. Die FDP hat zu einer ausserordentlichen Delegiertenversammlung im Hotel Sheraton Four Points im Sihlcity geladen, um die Parole zur kantonalen Kirchensteuerinitiative zu fassen. Inmitten der über hundert Delegierten bricht der ehemalige Gemeinderat Jean E. Bollier plötzlich zusammen: Kammerflimmern, Herzstillstand.

Der Zufall will es, dass im Saal auch Ärzte anwesend sind. Eine von ihnen ist Bettina Balmer. Die Kinderchirurgin und Kantonsrätin beginnt mit einer Kollegin sofort mit den Wiederbelebungsmassnahmen, während Kantonsrat Thomas Vogel an der Hotellobby einen Defibrillator auftreibt. Balmer hat die Ereignisse heute noch vor Augen. «Es waren extrem hektische Minuten, die uns auch körperlich alles abverlangt haben.» Denn bei der Herzmassage ist es entscheidend, mit dem ganzen Gewicht zu drücken. Der Einsatz lohnt sich, Bollier überlebt den Herzstillstand. Wenige Tage später sagt er zum «Tages-Anzeiger», dass er sich jetzt mehr auf sein Rentnerdasein konzentrieren werde.

Im Tessin werden Helfer per App alarmiert

Bollier ist einer der wenigen Glücklichen. Exakte Zahlen fehlen zwar, aber die Zürcher Gesellschaft für Kardiologie geht davon aus, dass nur rund 5 Prozent der Betroffenen einen Herzstillstand überleben. Das grosse Problem ist die Zeit. Denn nur wenige Minuten entscheiden über Leben und Tod. Schlägt das Herz nicht mehr, wird auch das Hirn nicht mehr mit Sauerstoff versorgt und erleidet rasch irreparable Schäden. Zudem sinken auch die Chancen, das Herz wieder zum Schlagen zu bringen, rapide.

Nun sind die Rettungsdienste im Kanton Zürich zwar ziemlich fix; sie müssen innert 15 Minuten beim Patienten sein, angestrebt werden gar 10 Minuten. Doch das reicht nicht, denn nach 10 Minuten liegen die Chancen für eine Wiederbelebung praktisch bei null. Kantonsrätin Balmer schwebt deshalb ein System vor, bei dem entsprechend geschulte Laien erste Hilfe leisten. Andere Kantone setzen bereits erfolgreich auf die sogenannten First Responder, im Kanton Zürich hat sich die Idee noch nicht etabliert. Balmer hat gemeinsam mit Thomas Vogel und Benjamin Fischer (svp.) nun eine Anfrage zum Thema im Parlament eingereicht. «Mit dieser Massnahme liessen sich Leben retten», sagt sie.

Der Pionier in diesem Bereich war der Kanton Tessin. Mit seinen verwinkelten Bergtälern war es für die Rettungsdienste schon immer schwer, frühzeitig vor Ort zu sein. Um die Situation zu verbessern, wurde 2005 die Stiftung Fondazione Ticino Cuore gegründet. Heute verfügt die Stiftung bereits über 4000 eingetragene Laienhelfer. Wenn unter der Nummer 144 eine Meldung zu einem möglichen Herzstillstand eingeht, dann werden Ersthelfer, die sich in der Nähe des Betroffenen befinden, automatisch per App alarmiert. Im Durchschnitt vergehen bloss fünf Minuten, bis die Helfer vor Ort sind. Für Rettungsdienste eine unschlagbar gute Zeit.

«Wir geben Geld für Dümmeres aus»

Donat R. Spahn ist Direktor des Instituts für Anästhesiologie am Universitätsspital Zürich. Für den Einsatz von First Respondern sieht er auch im Kanton Zürich «eindeutig Potenzial». Internationale Studien zeigten, dass die Überlebenschancen der Betroffenen verdoppelt werden könnten. «Es wäre absolut sinnvoll, wenn geschulte Laien ausrücken würden. Sie sind schlicht schneller vor Ort.» Wie viele Leben damit gerettet werden könnten, ist schwierig zu sagen, weil detaillierte Fallzahlen fehlen. Aufgrund bisheriger Studien geht Spahn aber davon aus, dass First Responder im Kanton Zürich jedes Jahr 70 Menschen vor dem Tod bewahren könnten.

Zusammen mit weiteren Ärzten war Spahn in den vergangenen Jahren deshalb mehrfach mit der Gesundheitsdirektion in Kontakt. Der Kanton unterstütze zwar Bestrebungen zur Ausbildung der Bevölkerung, sagt Spahn, ein System wie in anderen Kantonen aufzuziehen, dazu sei die Regierung aber bisher noch nicht bereit gewesen. Dabei hätten auch Sorgen wegen der Kosten eine Rolle gespielt. Diese seien zwar nicht zu vernachlässigen, meint Spahn, «aber wenn sich der Kanton Tessin ein solches System leisten kann, dann sollte das in Zürich auch drinliegen». Insbesondere weil das Kosten-Nutzen-Verhältnis hier ausgesprochen gut sei. Die Überlebenswahrscheinlichkeit von Patienten zu verdoppeln, koste in anderen Bereichen der Medizin sehr viel mehr Geld.

Beat Baumgartner, Leiter Rettungsdienst der Spital STS AG in Spiez, sagt es noch expliziter: «Eigentlich ist der Einsatz von First Respondern unglaublich billig. Wir geben in der Medizin nun wirklich für viel Dümmeres Geld aus.» Baumgartner ist auch Präsident von firstresponder.be. Statt den langen politischen Weg zu gehen, haben die Berner einen Verein gegründet. Beim Kanton Geld aufzutreiben, wäre einfach ein zu grosser «Knorz» gewesen, meint Baumgartner. Der Verein finanziert sich deshalb aus Beiträgen von Gönnern und Sponsoren. Zudem werden jedem Patienten 100 Franken verrechnet, wenn First Responder vor Ort erste Hilfe geleistet haben. 2018 hatte der Verein Ausgaben von gut 100 000 Franken.

Der finanzielle Aufwand ist aber nur so niedrig, weil nach wie vor Kosten von den Trägerschaften der Rettungsdienste übernommen werden und sehr viel unentgeltliche Arbeit geleistet wird. So bereiten die Mitarbeiter der acht Berner Rettungsdienste zwischen ihren Einsätzen Schulungen vor oder fertigen Statistiken an. Und auch die Einsätze der 2400 First Responder erfolgen ehrenamtlich. Dafür erhalten sie eine rund vierstündige Einführungsschulung und haben auch die Möglichkeit, Weiterbildungen zu besuchen.

Leute für die Einsätze zu gewinnen, sei überhaupt kein Problem, sagt Baumgartner. «Die First Responder melden sich von sich aus bei uns an, sind mit viel Herzblut bei der Sache und leisten auch top Arbeit.» Die grösste Hürde sei es gewesen, die Profis von der Sache zu überzeugen. Die Rettungssanitäter seien sich gewöhnt gewesen, dass sie als Erste vor Ort seien. Er habe einiges an Überzeugungsarbeit leisten müssen, bis die Profis die Arbeit der Laien schätzen gelernt hätten. «Heute ist das aber kein Problem mehr, die Zusammenarbeit läuft bestens.»

«System ist aufwendig im Management»

Doch auch im Kanton Zürich hat die Ärzteschaft bereits einiges in Gang gesetzt. Seit 2010 rückt in der Stadt Zürich bei einem Herzstillstand auch die Polizei aus. Die Stadtpolizisten wurden entsprechend ausgebildet und mit Defibrillatoren ausgerüstet. Die Kosten für die Ausrüstung trug die Stadt, die Ausbildung haben die Ärzte kostenlos geleistet. Wie eine Studie zeigt, war die Sache ein Erfolg. Die Polizisten waren im Schnitt nach 8 Minuten vor Ort und damit 3 Minuten schneller als die Rettungsdienste. Die Überlebensrate konnte so verdoppelt werden, von 7 auf 14 Prozent. Mittlerweile ist auch die Kantonspolizei nachgezogen. «Die Polizisten, die Teil des Programms sind, sind begeistert von der Sache», sagt Spahn.

Schutz und Rettung Zürich sieht für die Stadt Zürich denn auch «keinen weiteren Handlungsbedarf», wie es auf Anfrage heisst. Im Gegensatz zu Laien seien die Polizisten zudem rund um die Uhr einsetzbar. Da im Kanton neben der Polizei auch die Feuerwehr und zum Teil auch Ärzte als First Responder tätig seien, «ist die Verfügbarkeit professioneller Dienste höher als in anderen Kantonen». Laienhelfer könnten zwar möglicherweise als Ergänzung in ländlichen Gegenden mit abgelegenen Weilern oder in Tälern mit langen Anfahrtszeiten dienen. Man müsse aber bedenken, «dass ein Laien-First-Responder-System relativ aufwendig im Aufbau und im Management ist».

Die Gesundheitsdirektion kann derzeit zum Thema nicht konkret Stellung nehmen, da die Anfrage aus dem Kantonsrat hängig ist. Ganz allgemein heisst es aber, dass der Kanton gute Erfahrungen damit gemacht habe, Polizei und Feuerwehr in die Rettungskette einzubinden.

Balmer will nun zunächst die Antwort der Regierung abwarten, bevor sie konkrete Schritte fordert. Man werde sicher das Verhältnis von Kosten und Nutzen genau anschauen müssen, sagt sie. «Aber ich finde die Idee bestechend, wenn Leute auf freiwilliger Basis etwas Gutes tun können.» Und auch die Digitalisierung bringe hier einen echten Nutzen.

Schüler sollen Leben retten

Neben Polizisten sollen auch Schüler ausgebildet werden. Mit «Kids Save Lives» wurde eine weltweite, von der WHO unterstützte Initiative ins Leben gerufen. Erfahrungen aus Skandinavien zeigen, dass auch damit die Wiederbelebungsqoute deutlich ansteigt. In der Sekundarschule Küsnacht läuft derzeit ein entsprechendes Pilotprojekt. Geleitet wird es von Jan Breckwoldt, Oberarzt Anästhesie am Zürcher Universitätsspital. Sein Ziel ist es, dass erste Hilfe zu einem Pflichtstoff für Schüler ab dem Alter von zwölf Jahren wird. Zwei Lektionen pro Jahr würden aus seiner Sicht schon ausreichen. Man suche zwar den Kontakt mit den entsprechenden Stellen beim Kanton, die Umsetzung komme aber nur langsam voran, sagte er kürzlich in einem Interview mit der «Zürichsee-Zeitung». Er schätzt, dass eine flächendeckende Umsetzung im Kanton Zürich innerhalb von fünf Jahren rund zwei Millionen Franken kosten würde.