«Die Polizei lässt mich in Ruhe. Sie weiss, dass ich meinen Schlafplatz immer sauber und ordentlich hinterlasse»: Notunterkünfte gibt es in Zürich genug. Manche schlafen trotzdem lieber auf der Strasse, auch im Winter. So wie Hans

Weshalb lebt in Zürich gut ein Dutzend Menschen auf der Strasse?

Dorothee Vögeli und Linda Koponen
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Auch bei Minustemperaturen schläft der 54-jährige Hans* unter der Hardbrücke. Er habe sich an die Kälte gewöhnt, sagt er.

Auch bei Minustemperaturen schläft der 54-jährige Hans* unter der Hardbrücke. Er habe sich an die Kälte gewöhnt, sagt er.

Christoph Ruckstuhl / NZZ

Hans* übernachtet unter der Hardbrücke. Der 54-Jährige hat eine Wolldecke über sein Velo gelegt, um sich vor dem Biswind zu schützen. Drei Campingkissen dienen ihm als Unterlage, ein grosser Karton an der Brückenrampe hält die Kälte ab. Wohl eher symbolische Wirkung hat der aufgespannte Regenschirm zu seinen Füssen.

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Ein Band von J. R. R. Tolkiens «Herr der Ringe» liegt auf einem Windlicht, daneben eine Brille. Zwei leere Bierdosen hat Hans fein säuberlich hinter seinem Rucksack aufgestellt. Inzwischen ist die Sonne aufgegangen. Jogger und Hündeler sind unterwegs, auch Passanten, die schnellen Schrittes auf dem Weg zur Arbeit sind. Viele beachten den Schlafenden nicht oder wenden den Blick sofort wieder ab.

Wir bringen ihm einen Kaffee, Hans regt sich nicht. Dann sprechen wir ihn an. Mit schnellem Griff zieht er den Schlafsack vom Kopf – und lächelt. Sein bärtiges Gesicht ist schmal, sein Haar braun. Ein paar Strähnen ragen in die Luft. Ja, er nehme den Kaffee sehr gerne, sagt er und ergreift mit seinen Wollhandschuhen vorsichtig den Becher. Während er trinkt, mustert er interessiert sein Gegenüber. Bereitwillig gibt er Auskunft.

Haben Sie gut geschlafen?

Ja, danke, sehr gut.

Bei der Kälte?

Ich habe einen guten Schlafsack und Wolldecken. Seit drei Jahren bin ich auf der Gasse, ich habe mich daran gewöhnt.

In der Stadt Zürich gibt es laut der städtischen Einsatztruppe SIP (Sicherheit Intervention Prävention) gut ein Dutzend Menschen, die wie er zu jeder Jahreszeit draussen nächtigen. Hinzu kommen all diejenigen, die in Notschlafstellen und nur phasenweise unter freiem Himmel übernachten. Wie viele es sind, weiss niemand.

Wieso tut man sich ein derart hartes Leben an in einer Stadt, die über genügend Hilfsangebote verfügt?

Alles verloren

Hans hat in seinem Leben viel durchgemacht. Was genau geschehen ist, lässt sich aus seinen Erzählungen nur bruchstückhaft rekonstruieren. Er sagt, er sei vor über dreissig Jahren in die Drogensucht geschlittert. Der Auslöser war offenbar ein Schicksalsschlag. Kurz vor der Hochzeit sei seine damalige Freundin mit den Kindern bei einem unbewachten Bahnübergang ums Leben gekommen. Während zwölf Jahren habe er als Förster gearbeitet, nach dem dritten Bandscheibenvorfall sei er zum IV-Fall geworden. Er habe in einer betreuten Wohngruppe gelebt, dann sei er zu seiner Freundin gezogen, dort könne er wegen eines anderen Bewohners nicht mehr hin.

Inzwischen hat Hans nicht einmal mehr eine Postadresse. Der öffentliche Raum ist sein Zuhause.

Reagieren die Passanten manchmal ungehalten?

Nein, die Leute sind nett. Manchmal bringen sie mir wie Sie einen Kaffee. Aber einmal, vor etwa zwei Jahren, hat mich eine Gruppe von jungen Männern zusammengeschlagen. Ich übernachtete damals neben einer Kirche.

Was tut die Polizei?

Die Polizei lässt mich in Ruhe. Sie kennt mich, und sie weiss, dass ich meinen Schlafplatz immer sauber und ordentlich hinterlasse. Aber betteln darf ich nicht. Als ich einmal ein Schild aufstellte, um Geld für Essen und Trinken zu sammeln, haben sie mir das verboten.

Wie verbringen Sie nun den Tag?

Als Erstes rolle ich meinen Schlafsack zusammen und verstecke meine Sachen. Wo das ist, sage ich Ihnen nicht, das ist geheim. Dann gehe ich zur Kontakt- und Anlaufstelle für Drogenabhängige. Dort kann ich mich waschen, essen – und Methadon konsumieren. Den Tag verbringe ich in Drop-ins.

Die Notschlafstelle als Übergangslösung

Nur wenige hundert Meter von Hans’ Schlafplatz entfernt, befindet sich die Notschlafstelle an der Rosengartenstrasse. Für einen symbolischen Betrag von fünf Franken können obdachlose Zürcherinnen und Zürcher hier übernachten, essen und duschen. Anspruch hat, wer in der Stadt angemeldet ist. In Zürich müsse jedoch niemand unter freiem Himmel schlafen, in Notsituationen würden auch auswärtige Personen aufgenommen, betont Kaspar Niederberger. Er ist Leiter des Geschäftsbereichs Wohnen und Obdach im Sozialdepartement. Das Angebot ist aber nur für einen Aufenthalt von höchstens vier Monaten vorgesehen. «Die Notschlafstelle ist keine Wohnlösung.» Das Ziel sei immer die Reintegration der Klientel in eine stabilere Wohnsituation.

Bei unserem Besuch sind keine Bewohner anwesend. Sie müssen die Unterkunft tagsüber verlassen, Medien sind – zum Schutz der vulnerablen Betroffenen – nur ausserhalb der Öffnungszeiten willkommen. Sylvie Jossi, die Leiterin der Abteilung Obdach, öffnet die Tür zum Männertrakt. Der Aufenthaltsraum erinnert an eine Jugendherberge. Vor dem Fenster steht ein Töggelikasten, es gibt ein Regal mit Büchern, Zimmerpflanzen und eine Küchenzeile mit Herd und Ofen für diejenigen, die selber kochen wollen.

Die Schlafräume sind zweckmässig eingerichtet: grauer Linoleumboden, schmale Kajütenbetten mit feuerfesten Matratzen und nummerierte Kästchen für persönliche Habseligkeiten. Es riecht nach abgestandenem Rauch. Auf einem Spind steht eine mit Alufolie überstülpte PET-Flasche, in der ein kleines Röhrchen steckt. Drogen, Alkohol und Zigaretten sind in den Aufenthaltsräumen verboten, aber in den sogenannten Konsumzimmern erlaubt. Es gibt saubere Spritzen und die Möglichkeit, diese hygienisch zu entsorgen. «Harm reduction» laute das Credo, erklärt Niederberger.

Auf einem der Betten liegen ein Frotteetuch und ein aufgeschlagener Weltatlas. Die meisten der 52 Plätze – 16 für Frauen, 36 für Männer – sind jedoch nicht belegt. Auch in dieser kalten Januarwoche ist die Herberge bei weitem nicht ausgelastet. Die Zahl der Übernachtungen sei heuer sogar tiefer als in den Vorjahren. Eine abschliessende Erklärung dafür fehlt. Eine Rolle spielen könnten die im letzten Sommer von der Stadt renovierten Gammelhäuser im Kreis 4. In diesen sind auch ehemalige Randständige untergebracht, wie das «SRF Regionaljournal» kürzlich berichtet hat.

Saisonale Schwankungen – sprich, eine Zunahme im Winter – kenne die Obdachlosigkeit kaum, sagt Jossi. Im Winter, wenn private Einrichtungen wie der Pfuusbus des Sozialwerks Pfarrer Sieber zusätzliche Übernachtungsmöglichkeiten anböten, nehme die Belegung der Notschlafstelle zeitweise sogar ab.

Auch in den wärmeren Monaten gibt es in Zürich eine grosse Vielfalt an städtischen und privaten Angeboten. Für sozial desintegrierte Familien stellt die Stadt Übergangswohnungen zur Verfügung. Im Ambulatorium an der Kanonengasse können sich Randständige medizinisch behandeln lassen. Die private Wohn- und Arbeitsgemeinschaft Suneboge zum Beispiel bietet längerfristige Wohnmöglichkeiten für desintegrierte Menschen. Einige von ihnen – darunter auch Hans – wollen all diese Angebote nicht nutzen. Jegliche Form der Bevormundung lehnt er ab.

Solche Entscheidungen gelte es zu respektieren, sagt Jossi. «Obdachlose sind Profis in ihrer Lebenssituation. Es wäre daher vermessen, ihnen ein Bett aufzwingen zu wollen, zumal schlafen eine sehr intime Angelegenheit ist.» Wer über Jahre im Freien gewohnt habe, könne einen geschlossenen Raum mit mehreren fremden Personen als sehr beengend empfinden. Auch Scham spiele eine Rolle: Hilfe anzunehmen, könne für viele einen Gesichtsverlust bedeuten.

Drogen, Schulden und psychische Erkrankungen

In der Notschlafstelle treffen Menschen aus unterschiedlichen Kulturen aufeinander, deren Problemlagen und psychischen Krankheitsbilder individuell sind. Was die Klientinnen und Klienten vereint, ist die akute Notsituation. Viele sind über 40 Jahre alt, Frauen sind in der Minderheit. «Den typischen Obdachlosen gibt es nicht», sind sich Jossi und Niederberger einig. Das Bild vom schwer drogensüchtigen, verwahrlosten Clochard sei längst überholt. Anders als zuzeiten der offenen Drogenszene in den 1990er Jahren, als vor allem Heroinabhängige die neueröffnete Notschlafstelle frequentierten, sehe man heute vielen die Randständigkeit nicht an.

Viele Bewohner kämpfen aber mit einer Sucht. Während der Heroinkonsum deutlich abgenommen habe, seien Medikamentenmissbrauch, synthetische Drogen und Kokain weit verbreitet. «Das grössere Thema in der Notschlafstelle ist der Alkohol», sagt Jossi. Sehr häufig führen finanzielle Nöte in die Obdachlosigkeit. Wie schnell das auch ohne Drogenabhängigkeit gehen kann, zeigt das Beispiel von Lilian Senn.

Die gelernte Floristin war nach kaufmännischen Weiterbildungen im Personalwesen tätig, hatte ein Burnout und verliess ihre Familie. Sie raffte sich aber wieder auf und machte die Ausbildung zur Buschauffeuse. Dann wuchs ihr alles über den Kopf. Sie konnte ihre Rechnungen nicht mehr bezahlen und verlor die Wohnung. Im Dokumentarfilm «Im Spiegel» gehört die 57-Jährige zu den vier Protagonisten, die von ihrer Kindheit, von ihren Krisen und vom Leben auf der Gasse erzählen (Zusatz).

Eine weitere Herausforderung seien auch die psychischen Beeinträchtigungen der Bewohner, sagen die Mitarbeitenden der Notschlafstelle. Tatsächlich leiden 96 Prozent der Klientel in den städtischen Notunterkünften und den übrigen Wohneinrichtungen für Randständige unter psychischen Störungen. Zudem sind sie oft kränker als stationäre Patienten. Diesen Befund förderte eine 2013 veröffentlichte Studie der Psychiatrisch-Psychologischen Poliklinik der Stadt Zürich (PPZ) zutage.

Die PPZ leistet inzwischen mit ihrem mobilen Kriseninterventionsteam Unterstützung in den Obdachloseneinrichtungen und macht Hausbesuche bei Menschen, die nicht mehr zurechtkommen und im Begriff sind, die Wohnung zu verlieren. Auslöser ist oft eine Gefährdungsmeldung von Nachbarn, Vermietern, Arbeitgebern und Sozialdiensten. Je nachdem trifft das Krisenteam auf hoch psychotische Menschen, die sich von Feinden umzingelt sehen und sich mit Händen und Füssen gegen jegliche Hilfe wehren.

Bei solch heiklen Einsätzen ist wenn immer möglich die im Krisenteam festangestellte Peer-Mitarbeitende Sibylle Pinzon dabei. Die 49-Jährige kennt die krankheitsbedingten Wahrnehmungsverschiebungen und die Furcht der allermeisten Randständigen vor der «Klapsmühle» aus eigener Erfahrung: Pinzon war heroinabhängig und obdachlos. Während viereinhalb Jahren war die Drogenszene am Platzspitz und am Letten ihre Heimat. «Ich hätte jederzeit Hilfe erhalten können, aber ich konnte kein normales Leben führen», sagt sie.

Als sie schliesslich mit den Drogen aufhörte, kam sie wegen psychotischer Schübe in die Klinik und erhielt die Diagnose Schizophrenie. Erst viele Jahre später entdeckte sie das Recovery-Konzept, das sich auf all das konzentriert, was trotz Krankheit noch möglich ist. Sie absolvierte eine auf diesem Prinzip basierende Peer-Ausbildung und versucht nun, das Vertrauen von Menschen am Rand der Gesellschaft zu gewinnen. Das Ziel ist es, ihnen wieder eine Lebensperspektive zu geben und sie dabei ganz konkret zu unterstützen.

Auch Pinzon gelingt es nicht immer, Brücken zu bauen. Wie Sylvie Jossi sagt aber auch sie: «Es gibt Gründe, weshalb jemand selbstbestimmt auf der Strasse leben will. Solange sich die Obdachlosen nicht auffällig verhalten, muss man das respektieren.» Als die Drogenszene am Letten aufgelöst wurde, floh Pinzon vor der Psychiatrie ins Ausland, weil sie keinen Entzug machen wollte. «In den Institutionen bekomme ich nicht die Hilfe, die ich brauche», habe sie damals gedacht.

Hans sieht es noch heute so. Mit dem Sozialwerk von Pfarrer Sieber stehe er auf Kriegsfuss – im Hoch-Ybrig habe er einmal einen Entzug versucht, dann sei er abgehauen, sagt er. Seither ist der Drogenentzug kein Thema mehr. Sich zu verändern, dazu fehlt ihm die Kraft. Am Abend wird er sich wieder unter der Hardbrücke installieren.

* Name geändert.