«Werther versinkt langsam im eigenen Gesülze» – wenn Schüler mit ihren Smartphones über Goethe herziehen

Die Digitalisierung verspricht neue Möglichkeiten im Schulzimmer. Wie wäre es zum Beispiel mit einem bissigen Blog zu einem Klassiker deutscher Literatur? Das finden nicht alle gut. Ein Schulbesuch in zwei Welten in Zürich.

Robin Schwarzenbach (Text), Karin Hofer (Bilder)
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Recherchieren, bloggen, posten: Das Smartphone wird in einer Deutschklasse an der Kantonsschule Enge immer wichtiger.

Recherchieren, bloggen, posten: Das Smartphone wird in einer Deutschklasse an der Kantonsschule Enge immer wichtiger.

Die Deutschstunde an der Kantonsschule Enge in Zürich beginnt mit einem vertrauten Bild: Der Lehrer schreibt mit Kreide an die Wandtafel. Die Klasse beschäftigt sich mit «Herkunft», einem autobiografischen Roman des bosnisch-deutschen Schriftstellers Saša Stanišić. Und doch zeigt sich schnell, dass hier anders unterrichtet wird als in den meisten Zürcher Gymi-Klassen.

«Wählen Sie ein Drachenprofil, also eines ohne Namen», sagt der Lehrer zu seinen Schülern, «und kennzeichnen Sie Ihre Beiträge jeweils mit Ihren Initialen, dann weiss ich, wer was gepostet hat.» Dann klappt er die Tafel auf, damit der Bildschirm seines Laptops auf die Leinwand dahinter projiziert werden kann. Zu sehen ist eine Website mit Fragen und Anregungen des Lehrers zum Text und mehreren Kommentaren der Jugendlichen darunter.

Daher auch der Rat des Pädagogen zu einem anonymen Profil: «Wenn Arbeitgeber später Ihren Namen googeln, sollten sie vielleicht nicht sehen, was Sie vor Jahren in der Schule geschrieben haben.»

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Philippe Wampfler hat die Website selber gebaut; mit Wordpress, einer populären Software für solche Aufgaben. Jeder kann Kommentare posten (sofern sie von Wampfler freigeschaltet werden), jede kann angehängte Klassenaufträge herunterladen (die allerdings auch auf Papier verteilt werden im Unterricht).

Der Deutschlehrer kennt sich aus im digitalen Raum. Als Fachdidaktiker und Autor von Büchern und wissenschaftlichen Artikeln hat sich der 42-Jährige längst einen Namen gemacht. Digitalisierung im Klassenzimmer ist sein Thema. Auf Twitter hat Wampfler über 10 000 Follower. Bei wem könnte man sich über neue Methoden im Deutschunterricht informieren, wenn nicht bei ihm?

Philippe Wampfler, Deutschlehrer mit Laptop, setzt stark auf digitale Elemente im Unterricht.

Philippe Wampfler, Deutschlehrer mit Laptop, setzt stark auf digitale Elemente im Unterricht.

Tatsächlich ist bei Wampfler vieles anders. Bücher, Lektüre und Diskussionen darüber in der Klasse reichen nicht. Für ihn steht fest, dass Gymnasiasten genauso mit Online-Texten in einer digitalen Umgebung umgehen können müssen. «Digital literacy» lautet das Stichwort – ein Ansatz, der sich auch und gerade mit Stoffen längst vergangener Epochen erproben lässt.

Vor den Weihnachtsferien lasen seine Schüler «Die Leiden des jungen Werthers» von Goethe. Und sie machten sich lustig über die tragische Figur, indem sie auf einer ebenfalls von Wampfler geschaffenen Website spöttische Kommentare in Bloggersprache publizierten. Selbst Emojis waren erlaubt, ja sogar erwünscht – je witziger und bissiger, desto besser. Zum Teil schrieben die Teenager ihre Beiträge live im Unterricht auf ihren Smartphones. Zum Brief des unglücklich Verliebten vom 8. August 1771 heisst es unter anderem:

Werther versinkt langsam im eigenen Gesülze über die Frage, ob er eines Ehrenmannes Frau ausspannen soll oder nicht.

Und zum Schreiben vom 26. November, als Werther erstmals seinen neuen Freund erwähnt, den wohlhabenden Grafen C.:

Einen Sugar Daddy hat er auch! . . . Der Graf C. hat sich dem Armen angenommen, der nämlich nur eines braucht: ATTENTION! Oder einfach nur ein bisschen weniger Drama. Who knows?

Der liebeskranke Werther, einer der wichtigsten Charaktere der deutschsprachigen Literatur, wird von 17-Jährigen vorgeführt, die sich um gepflegten Stil foutieren und darin von ihrem Lehrer noch bestärkt werden: Viele Goethe-Verehrer in der Lehrerschaft dürften hier nur den Kopf schütteln – zumal die spassigen Textchen bei Wampfler durchaus ernst gemeint sind: Die letzten Blog-Posts der Schüler wurden benotet: 30 Minuten, maximal 70 Wörter zu einem Brief; Bezug, Wiedergabe und Rechtschreibung wurden ebenfalls berücksichtigt.

Der ungewohnte Zugang indes ist keine Spielerei: Die Schülerinnen und Schüler sollen sich beim Lesen nicht mit Werther identifizieren, sondern Distanz wahren, um ihn entlarven zu können, zum Beispiel als selbstbezogene Drama-Queen. Also machen sie ihn lächerlich in einem Format, das viele von ihnen von anderen Blogs und Chat-Gruppen bereits kennen dürften. Wampfler sagt: «Ich will sie dazu bringen, ihren Alltag im Netz zu reflektieren.»

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50 Meter stadteinwärts stellen sich ganz andere Fragen. Die Smartphones der Schüler bleiben ausgeschaltet, gearbeitet wird auf Papier, «Digital literacy» spielt keine Rolle. Stattdessen will Beat Gyger von einer zweiten Gymi-Klasse am benachbarten Freudenberg wissen: Haben Handküsse noch einen Platz in unserer Gesellschaft?

Hier spielt der virtuelle Raum keine Rolle. Stattdessen arbeiten die Schülerinnen und Schüler auf Papier: Deutschstunde einer Maturaklasse an der Kantonsschule Freudenberg.

Hier spielt der virtuelle Raum keine Rolle. Stattdessen arbeiten die Schülerinnen und Schüler auf Papier: Deutschstunde einer Maturaklasse an der Kantonsschule Freudenberg.

Der Deutschlehrer hat das Thema aufgebracht, da die Klasse «Sanierung» liest, eine Erzählung des Schweizer Autors Friedrich Glauser (1896–1938). Dort küsst ein Patient seiner Krankenschwester die Hand und möchte dies ein zweites Mal tun, doch die junge Frau – gerührt, aber auch verlegen – zieht sie reflexartig zurück. Ist der Handkuss der Krankenschwester nun angenehm oder unangenehm, da sie solche Umgangsformen nicht gewohnt ist? Die Frage muss offen bleiben, doch die Textstelle bietet einen eleganten Ausweg. «Die Leute vom Fach sprechen von Ambivalenz», schreibt Glauser. «Als ob dadurch etwas erklärt wäre.»

Gyger, 55, seit einigen Jahren stolzer Besitzer eines Tablets (mit denen im Freudenberg die Beamer bedient werden), ist ein Germanist alter Schule. Bei ihm steht der gedruckte Buchstabe im Zentrum. Es geht um Text, um Schreibtechnik, um Botschaften, die heute noch aktuell sind, zum Beispiel zur ungleichen Rollenverteilung von Frau und Mann in der Arbeitswelt. Die Stelle zur Ausbildung der Krankenschwester hebt der Lehrer besonders hervor in der Stunde. Glauser schreibt:

Bis der grosse Tag kam, an dem man zum ersten Male bei einer Operation assistieren durfte. Den grossen «Chef» bedienen, ihm behilflich sein, sich anschnauzen lassen durfte.

«Was fällt euch hier auf?» Keine Antwort aus der Klasse. Gyger hilft ihr auf die Sprünge: «Als ob es eine Ehre wäre, sich anschnauzen zu lassen. Lasst euch diese Formulierung auf der Zunge zergehen!» Dann verteilt er einen Zettel mit weiteren Fragen zur Erzählung, die die Jugendlichen zu zweit besprechen sollen. Eine sechste Klasse von Gyger musste Ende Januar einen Aufsatz in Form einer Rezension schreiben, die geeignet wäre «für den Kulturteil einer renommierten Tageszeitung».

Und wie wäre es einmal mit einem Blog? Gyger antwortet diplomatisch. Niemand könne es sich leisten, die neuen Möglichkeiten im Unterricht zu ignorieren, sagt er und zeigt in seinem Büro auf ein neues Buch für Deutschlehrer. Der vielsagende Titel: «Neuland Digitalisierung». Er selbst habe in den vergangenen Jahren keine Kapazitäten gehabt, um sich vertieft damit auseinanderzusetzen, sagt Gyger. Doch das werde er in einem Freisemester bald nachholen.

Der Literaturliebhaber sagt aber auch: «Ich habe keine Lust auf schlechte Texte, die als ‹Literatur› durchgehen im Netz.»

Beat Gyger, Germanist alter Schule am Freudenberg, hatte noch keine Zeit für eine vertiefte Auseinandersetzung mit digitalen Elementen im Unterricht.

Beat Gyger, Germanist alter Schule am Freudenberg, hatte noch keine Zeit für eine vertiefte Auseinandersetzung mit digitalen Elementen im Unterricht.

Es scheint schwer vorstellbar, dass Deutschlehrer mit ähnlichen Überzeugungen ihre Schüler künftig nicht nur Aufsätze schreiben lassen, sondern auch bloggen werden mit ihnen, wie Philippe Wampfler das tut. Oder die Jugendlichen einen Wikipedia-Eintrag über einen literarischen Text schreiben lassen, wie das ein Kollege Wampflers an der Enge vor zwei Jahren gemacht hat.

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Eine Gruppe von Maturanden von Beat Gyger stellt ihrem Lehrer trotzdem ein gutes Zeugnis aus. «Ich finde es gut, dass wir uns viel mit dem Schreibstil der Autoren beschäftigen», sagt einer der Schüler an diesem Freitagnachmittag. Das helfe, den Wortschatz zu erweitern. Auch die Verbindung von Texten des frühen 20. Jahrhunderts mit Fragen von heute wird gelobt. Die Wahl der Bücher ebenso: «Er weiss, was er uns zumuten kann.»

Ein Online-Projekt fände sie zwar spannend, ergänzt eine Schülerin, es sei aber nicht etwas, was ihr fehle. Mit der Vorstellung allerdings, einen flapsigen Blog zu schreiben, können die Jugendlichen nichts anfangen. «Das fände ich widersinnig», sagt eine von ihnen. «Das gehört nicht in den Deutschunterricht», ein anderer.

Würden sie ähnlich urteilen, wenn sie bei einem Lehrer wie Philippe Wampfler zur Schule gingen? Unter seinen Schülern jedenfalls klingt es ganz anders. Sie müssten doch wissen, wie man digital arbeitet. «Das ist wichtig für unsere Zukunft», findet einer der Teenager. «Die Posts zu Goethe haben mir geholfen, das Buch zu verstehen», berichtet ein anderer. Denn beim Bloggen habe er sich immer wieder gefragt: «Wie wäre es heute?»

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Wichtiger als die digitale Komponente an sich ist den Jugendlichen jedoch die Feststellung, dass der Unterricht bei Wampfler generell sehr abwechslungsreich, ja sogar unberechenbar sei. Einen Eindruck davon bietet die erwähnte Stunde zu «Herkunft» von Saša Stanišić. «Sprecht Deutsch!», bekommen der Autor und sein Vater in einem Tram in Heidelberg von einem Einheimischen zu hören. Die Szene könnte sich auch in der Schweiz abspielen. Viele Schüler haben ebenfalls ausländische Wurzeln. Haben Sie Ähnliches erlebt? Von wem?

Wampfler dreht den Spiess um. «Stellen wir uns eine Schweizer Trickfilmfigur vor, die so etwas sagen könnte: Wie würde man die beschreiben?» Augenblicke später diskutiert die Klasse über Klischees, Mentalitäten und Zuschreibungen, zunächst heiter (Trickfilmfigur), dann ernst (mit Blick auf den nicht immer einfachen Umgang von Schweizern und Nichtschweizern miteinander, auch unter jungen).

Die Website zum Buch ist zu diesem Zeitpunkt längst in den Hintergrund getreten. Der grösste Teil der Stunde findet offline statt, im Austausch zwischen Schülerinnen und Schülern und dem Lehrer. Auch im Freudenberg gilt: Die Verbindung zum Mann an der Wandtafel funktioniert offenbar, weil seine Art des Unterrichts authentisch ist und er ein Gespür hat für Themen, die seine Schüler interessieren. Das ist viel zentraler als die Frage, ob digital oder nicht.

Zürcher Gymnasien sollen bei der Digitalisierung aufholen

R. Sc. Primar- und Sekundarschulen haben dank Lehrplan 21 einen Vorsprung, nun sollen auch die Zürcher Gymnasien fit gemacht werden für den digitalen Wandel. Neben technischen Fragen geht es auch um neue Ansätze im Unterricht. Das Mittelschul- und Berufsbildungsamt (MBA) unterstützt die Schulen dabei, etwa bei der Entlastung von Lehrpersonen, die ihr digitales Wissen intern weitergeben wollen. Die Plattform «Digital Learning Hub Sek II» will Lehrerinnen und Lehrer mit Projekten an anderen Schulen bekanntmachen.

MBA-Chef Niklaus Schatzmann betont, dass Schulen und Lehrer in der Unterrichtsgestaltung weiterhin frei seien. Digitalisierung könne nicht verordnet werden. Moritz Spillmann, der Rektor der Kantonsschule Enge, verweist auf eine gute Mischung, eine Stärke der Gymnasien mit vielen Fächern: Klassisch unterrichtende Lehrer seien weiterhin gefragt. Neues ausprobieren will seine Schule dennoch. Nach den Sommerferien gilt an der Enge die Devise: Smartphone, Tablet oder Laptop immer dabei! («Bring your own device.»)

Mehr von Robin Schwarzenbach (RSc)

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