17. September 2018

Verfassung, welche Verfassung?

Ca. 1946
Da wird bei uns in Deutschland »die Verfassung« geschützt. »Rechts« stehen »Verfassungsfeinde«. Und alle sind stolz auf unsere »freiheitliche Verfassung«. 
   Welche Verfassung bitte?
Ich habe als erstes die Verfassung des Freistaates Bayern in die Hand gedrückt bekommen, als ich dort in einem Internat zur Schule ging. 
   Inzwischen sind wir alle digital-elektronisch geworden: Sie finden sie hier. Zugleich lernte ich, dass eigentlich die »deutsche« Verfassung gilt, die der Bundesrepublik Deutschland, hier, nicht in Bayern die bayrische und so weiter. Allerdings war die Verfassung genaugenommen und bewusst keine »Verfassung«, sondern »nur« ein »Grundgesetz«, hier schön nachzulesen. 
   Direkt vom Volk bestätigt wurde weder Grundgesetz noch Verfassung, Zitat: »Auch 1990 wurde das Grundgesetz als nunmehr gesamtdeutsche Verfassung keinem Referendum unterzogen, was nicht nur von vielen Bürgern der DDR bedauert wurde.« 
   Bleiben wir noch einen Moment im Nachkriegsbayern, amerikanische Zone. Dort gab es am 1. Dezember 1946 einen Volksentscheid über Verfassung. Mit 70,6 Prozent Ja-Stimmen fand die Verfassung eine breite Zustimmung. Das (allgemeine) deutsche Grundgesetz allerdings lehnten 1949 im Bayerischen Landtag die meisten Abgeordneten der CSU und der WAV (Wirtschaftliche Aufbau-Vereinigung) mit Stimmenmehrheit ab, während sich SPD und FDP für das Grundgesetz aussprachen. Obgleich Bayern damit als einziges Land gegen das Grundgesetz stimmte, wurde gleichzeitig dessen Gültigkeit auch für Bayern mit einer deutlichen Mehrheit anerkannt. Seitdem werden viele Artikel der Bayerischen Verfassung von Bundesrecht überlagert (Quelle Bayrischer Landtag). 
   Nach der Schule habe ich mich nicht weiter um die Verfassung beziehungsweise das Grundgesetz gekümmert. Es war halt da und gültig.
   Dann kam im Jahr 2000 die Kreil-Entscheidung. Eigentlich habe ich auch die verschlafen, war ich doch im Gegensatz zu Tanja Kreil keine wehrtaugliche Frau. Allerdings sollte spätestens seit damals jedem klar sein, dass für uns Deutsche – also auch Bayern – weder die bayrische Verfassung noch das deutsche Grundgesetz gelten, sondern »europäisches« Recht, ausgelegt von EuGH, sprich Oi-G-H, dem Europäischen Gerichtshof. 
   Eine EU-Verfassung, ein Vertrag über eine Verfassung für Europa (VVE), wurde zwar »2004 in Rom feierlich von den Staats- und Regierungschefs der EU-Mitgliedstaaten unterzeichnet«, trat aber nie in Kraft. Erst recht konnte »das ›europäische‹ Volk« nie darüber abstimmen.
   Wir haben also keine Verfassung, keine gültige, genaugenommen. Als Begriff bleibt sie aber in Erinnerung.

Die Wiedervereinigungsklausel. Artikel 146 Grundgesetz lautet:
»Dieses Grundgesetz, das nach Vollendung der Einheit und Freiheit Deutschlands für das gesamte deutsche Volk gilt, verliert seine Gültigkeit an dem Tage, an dem eine Verfassung in Kraft tritt, die von dem deutschen Volke in freier Entscheidung beschlossen worden ist.« – Den Gedanken von Domik Storr zu diesem Thema kann ich nur hinzufügen, dass »damals« selbstverständlich auch die verlorenen Ostgebiete zum »deutschen Volk« gehört hatten. Die Oder-Neiße-Linie war noch provisorisch. Aus damaliger Sicht ist die »Vollendung der Einheit« auch durch die Wiedervereinigung nicht vollzogen, und Artikel 146 mag weiter tief in der Geschichte ruhen.


PS. Selbst die neue deutsche Rechtschreibung belässt geografische Eigenschaftswörter auf -isch klein (§61, Duden D90). Gut so. Wenn der EuGH also europäisch immer großschreibt, dann eben, weil der nicht ganz Europa betrifft, sondern sich einfach so nennt und »nur« die Menschen in der Europäischen Union umfasst. Auch die Schweizer? Egal.

Link hierher http://bit.ly/2xeGRlq =  
https://blogabissl.blogspot.com/2018/09/verfassung-welche-verfassung.html


Speziell aus der Schweiz habe ich in der NZZ einen kritischen Artikel gefunden, der »globalen« Regeln den Vorrang einräumt und die Komplexität vormals hoheitlicher Entscheidungen darstellt: »Der Uno-Ausschuss gegen Folter hat erstmals erklärt, dass eine fehlende medizinische Versorgung einer unmenschlichen Behandlung gleichkommen kann. Der Entscheid setzt Leitlinien, wie die Dublin-Verordnung im Einklang mit menschenrechtlichen Verpflichtungen angewendet werden soll«.
   Das Völkerrecht macht besonders den neutralen, selbstbewussten Schweizern immer wieder Gedanken, siehe NZZ »Was das Völkerrecht ist und warum es uns betrifft« von Ende September 2018 auf http://j.mp/2zy4lDN. Dazu gleichentags ein Meinungsartikel von Kathrin Alder: »Die Schweiz ist ein kleines Land. Auf das Völkerrecht sind wir deshalb besonders angewiesen« auf http://j.mp/2N6nGzt

»Erste Seite« des Kodex’ Hammurabi, Louvre
Wikipedia
Der Historiker Yuval Noah Harari schreibt in seiner »kurzen Geschichte der Menschheit« (ich zitiere den Deutschlandfunk zum Nachlesen und -hören): 
   »Der Mensch ist umgeben von den Produkten seiner Fantasie: Das Grundgesetz, die Unternehmen Microsoft oder Apple, die Vereinigten Staaten von Amerika oder die eigene Ehe – alles das existiert gar nicht wirklich, sondern wurde mithilfe einer träumenden Sprache als Mythos in die Welt gesetzt. Nicht aus Atomen und Eiweißen besteht die menschliche Kultur, sondern aus puren Geschichten«. 
   Harari greift noch weiter zurück, in babylonische Zeit, zum Kodex Hammurabis von -1776 (Seite 134 im Buch), der – schon damals mit rund achttausend Wörtern in 282 Sätzen sehr detailliert – als »Grundgesetz« bis -539 galt, über tausend Jahre, wenn ich das recht vermute. Einzelheiten des Gesetzes kolportiert hier sehr gut der Spiegel, bis hin zur Bankenregulierung. Das sollten wir ihm einmal nachmachen!

PS. Am Wochenende 13.10.2018 schreibt Chefredaktor Eric Gujer von der NZZ in seinem Leitartikel über den EuGH: »Er verfolgt tatsächlich voller missionarischem Eifer eine Agenda, wie der frühere deutsche Verfassungsrichter Dieter Grimm schreibt*). Der Luxemburger Gerichtshof arbeitet seit den sechziger Jahren mit durchschlagendem Erfolg daran, die nationalen Spielräume zu verengen und einen generellen Primat des EU-Rechts vor der nationalen Rechtsprechung durchzusetzen. Grimm sieht in dem Luxemburger Gericht und der ausufernden Interpretation von dessen Mandat einen Hauptgrund, warum die EU an Legitimität und deren Mitgliedstaaten an Souveränität verlieren«. Gujer empfiehlt der Schweiz als Gegenmittel den Beitritt zum Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) mit dem dort zuständigen Efta-Gerichtshof: »Der Gerichtshof hat bewiesen, dass er eigenständig urteilt und den Konflikt mit den EU-Richtern nicht scheut«.

*) »Europa ja – aber welches?: Zur Verfassung der europäischen Demokratie« von Dieter Grimm, siehe http://j.mp/2pNoNL8
 und z.B. https://www.sueddeutsche.de/politik/europa-die-dunkle-seite-1.2883401 

Keine Kommentare: